Sozialisation: Weiblich - männlich?
klein.
Viele Teilnehmer an der Debatte über Ursachen von Geschlechtsunterschieden scheinen nicht zu begreifen, daß „statistisch signifikante“ Unterschiede keineswegs eine klare Aussage über Realität beinhalten. So gilt z. B.: je größer die Stichprobe, desto geringer muß der Unterschied der Mittelwerte sein, um statistisch signifikant zu sein. Wenn aber die Differenz den Wert von einer halben Aufgabe hat, wie bei Flanagans Ergebnissen, der 440.000 Schüler/innen in ihren mathematischen Fähigkeiten verglich, ist das Resultat praktisch ohne Bedeutung. Darüber hinaus ist aber gezeigt worden, daß
jede
Zweiteilung einer großen Stichprobe meistens statistisch signifikante Unterschiede in beliebigen Messungen oder Daten „aufdecken“ wird. ganz gleich nach welchem Prinzip die Stichprobe geteilt wird – ob nach Geschlecht, Nord/Süd, Stadt/Land. Diese „statistisch nachweisbaren“ Unterschiede haben oft wenig oder keine Bedeutung
(Sherman
1978, S. 17). Viel Verwirrung wird durch die Gepflogenheit gestiftet, statistisch signifikante Unterschiede im Mittelwert in einer (oder einigen) Untersuchungen etwa in der Form darzustellen, daß gesagt wird: „Jungen sind aggressiver“, „Mädchen sind bei sprachlichen Leistungen unter allen möglichen Aspekten überlegen“ (so z. B.
Merz
1979). Die entsprechenden Daten zeigen lediglich, daß nur eine kleine Minderheit des jeweiligen Geschlechts eine für das andere Geschlecht ungewöhnliche Ausprägung aufweist; die große Mehrheit der Jungen wie Mädchen unterscheiden sich individuell, jedoch nicht als Gruppe.
Schließlich müßte geklärt werden:
Welche Anhaltspunkte haben wir dafür, daß gerade im angesprochenen Verhaltensbereich die menschliche Plastizität geringer sein sollte als in anderen Bereichen?
Im allgemeinen gilt in der Anthropologie als gesichert, daß das Verhalten der Menschen nicht durch vorgegebene biologische Koppelungen gesteuert ist. Ein qualitativer Unterschied im menschlichen Verhalten zu dem der Affen besteht darin, daß Intelligenz, Fantasie, Kultur, gesellschaftliche und historische Verhältnisse zwischen Reiz und Reaktion vermitteln (vgl. etwa, um einige Namen zu nennen,
Marx, Alsberg, Plessner, Gehlen, Claessens).
Wenn wir wissen, daß die
Sprache
ein grundlegend anderes Verhältnis der Menschen zur Vergangenheit, zur Zukunft und zur Welt begründet als dies bei den Tieren möglich ist, so mutet es recht seltsam an, daß besonders gute sprachliche Leistungen auf Mechanismen zurückgeführt werden sollen, die die Menschen mit den Affen oder gar den Ratten gemeinsam hätten. Ehe mit biologischen Theorien angesetzt wird, müßte begründet werden, warum der betreffende Verhaltensbereich als weniger plastisch, kulturell bestimmbar gelten soll als andere. Eine solche Argumentation ist vorstellbar, wird aber zumeist nicht einmal versucht.
Der bloße Hinweis auf die Beteiligung der Hormone an emotionalen Zuständen wird nicht ausreichen, um ein Stück rohe Natur mitten in der Gesellschaft zu enthüllen. Wir werden die Hormone vielmehr begreifen müssen als eine spezifisch menschliche Möglichkeit, nicht nur die Gedanken und die Bewegungen, sondern auch die Antriebskräfte und die Gefühle durch symbolische (z.B. sprachliche, bildliche) Vorgänge zu steuern. Eben weil die Hormonproduktion vom Gehirn gesteuert wird, die Hormone aber andererseits gesamtkörperliche Zustände mitbewirken, die wir als Emotionen erleben, sind sie ein Mittel der Integration von Körper, Begierde und symbolischem Denken: Ihretwegen können wir in Leib und Seele wütend werden, wenn wir sprachlich und für unsere Kultur spezifisch „beleidigt“ werden; durch sie ist Sehnsucht nach abwesenden Geliebten möglich. Kurz, die Hormone haben viel mit der Körperlichkeit unseres Seelenlebens zu tun. Sie übernehmen damit Funktionen, die es im Tierreich überhaupt nicht gibt. Den Inhalt unserer Gefühle aus der Funktion der Hormone bei Rhesusäffchen oder Ratten ableiten zu wollen, entspricht in etwa dem Versuch, den Inhalt menschlicher Arbeit aus dem Werkzeuggebrauch von Schimpansen abzuleiten. Mit der Menschwerdung ist eine spezifische Form des Bewußtseins entstanden, für die es keine Vergleiche gibt, und die Funktionen aller Steuerungssysteme haben sich dadurch verändert.
Die Frage nach der Bedeutung der Biologie für Geschlechterunterschiede fängt mit der Frage nach einer biologischen Bestimmung der Geschlechter an. Das ist nicht so einfach, wie es unsere Kultur
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