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Sozialisation: Weiblich - männlich?

Titel: Sozialisation: Weiblich - männlich? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Hagemann-White
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anderen Fällen ist das soziale Zuweisungsgeschlecht die unabhängige Variable der Forschung, es sei denn, besondere Gruppen werden in der Klinik ausgesucht.
    Kessler/McKenna
(1978) haben die soziale Konstruktion von Geschlechtszugehörigkeit im Alltag genauer untersucht. Anhand einer Erhebung und Analyse der Interaktionen von Transsexuellen sowie einer Reihe von Experimenten mit Zeichnungen und deren Zuordnung durch Erwachsene und Kinder gelangen sie zu dem Schluß, daß die Zuschreibung eines Penis ausschlaggebend für die Geschlechtszuordnung ist: alles, was auf dessen Fehlen hinweist, führt zu der sozialen Einordnung als weiblich, während weibliche Geschlechtsmerkmale eine untergeordnete Bedeutung haben. Dem entspricht, daß Personen, die keine Geschlechtsmerkmale entwickeln, weil ihnen das erforderliche Chromosom fehlt (XO), sozial als „weiblich“ eingeordnet werden. In der Literatur werden sie häufig auch als weibliche Individuen gekennzeichnet und ihre Testleistungen so bewertet, als hätten wir es mit besonders weiblichen Personen zu tun. Obwohl die Geschlechtszugehörigkeit in diesem Fall
rein
sozialer Art ist, wird besonders gern auf diese Personen zurückgegriffen, um biologische Argumentationen über Geschlechterunterschiede zu untermauern. Dies ist nur ein besonders eklatantes Beispiel für die Verwirrung zwischen biologischem und sozialem Geschlecht, die oft anzutreffen ist.
    Theorien, die eine biologische Grundlage für unterschiedliches Verhalten von Frauen und Männern annehmen, berufen sich meist auf eine oder mehrere der folgenden Quellen:
Vererbung und Hormone und deren vermutete Wirkung;
Unterschiede in der Reifung und in den Gehirnfunktionen;
Vergleiche zu anderen Tieren, besonders Affen;
interkulturelle Vergleiche.
    Ihre mögliche Relevanz für geschlechtstypisches Verhalten soll im folgenden kurz betrachtet werden.
    Vermutungen über die
Vererbung
von Fähigkeiten treten immer dann auf, wenn die Verteilung einer besonderen Befähigung einen auffälligen Unterschied nach Geschlecht zu haben scheint. Rezessive Gene am X-Chromosom kommen bei Frauen erheblich seltener zur Geltung als bei Männern: Vorausgesagt wird eine Verteilung, bei der 50 % der Männer, jedoch nur 25 % der Frauen das Merkmal haben. Die Theorie ist z. B. für das visuell-räumliche Vorstellungsvermögen ins Spiel gebracht worden, als eine einzelne Untersuchung eine entsprechende Verteilung von überdurchschnittlichen Leistungen fand. Da jedoch sehr viele Untersuchungen keine oder nur sehr geringe Unterschiede festgestellt haben, darf diese These als widerlegt gelten. Schwieriger ist der Umgang mit Thesen, die die Vererbung eines „kleinen Vorsprungs“ am Y-Chromosom vermuten, welcher nur im Zusammenhang mit weiteren Faktoren zur Wirkung gelangen würde; sie sind weder widerlegbar noch beweisbar.
    Vermutungen über Erblichkeit werden auch durch die Überprüfung von Korrelationen der Leistungen innerhalb von Familien getestet. Die häufig als beweiskräftig (z. B. von
Maccoby/Jacklin
1974 und ihnen folgend
Schenk
1979) zitierte Untersuchung von Stafford sollte die Erblichkeit von mathematischen Fähigkeiten prüfen. Stafford selbst interpretierte seine Befunde als mit der Annahme einer Vererbung am X-Chromosom vereinbar: Immer unter der Voraussetzung, daß es sich um eine vererbte Fähigkeit handelt, paßten die Daten seiner Meinung nach besser zu einer Vererbung am X-Chromosom als zu einer Vererbung unabhängig vom Geschlecht. Damit ist aber die Erblichkeit nicht erwiesen. Wie
Sherman
(1978, 77-79) im einzelnen zeigt, entsprechen die meisten von Stafford ermittelten Korrelationen schlecht oder gar nicht dem Muster einer Vererbung am X-Chromosom. Nur die Tatbestände einer recht hohen Mutter-Sohn-Korrelation und einer fast auf Null geschrumpften Vater-Sohn-Korrelation entsprachen der Hypothese. Sie entsprechen aber auch der gesellschaftlichen Zuständigkeit für Kindererziehung und Schularbeitshilfe. Die Daten für die Töchter entsprachen gar nicht den Erwartungen, was aber von Stafford offenbar nicht als gewichtiges Problem gewertet wurde. Weitere Studien haben die Theorie nicht bestätigt. Selbst
Vandenberg/Kuse
(1979), die der Erblichkeitstheorie deutlich zuneigen und die Daten zugunsten männlicher Überlegenheit im visuell-räumlichen Vorstellungsvermögen betonen, kommen nach Prüfung aller denkbaren Verzerrungsfaktoren zu dem Schluß, daß alle neueren Studien keine Bestätigung für Vererbung am X-Chromosom

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