Sozialisation: Weiblich - männlich?
voraussetzt. Die meisten, aber keineswegs alle Menschen lassen sich in zwei Kategorien einteilen, die sich sowohl hinsichtlich der Chromosomen, wie auch der inneren und äußeren Geschlechtsorgane und der Hormonproduktion als weiblich bzw. männlich bestimmen lassen. Die Mehrheit dieser eindeutig zuzuordnenden Menschen weisen im Durchschnitt einige Unterschiede im Körperbau und im Stoffwechsel auf.
Am eindeutigsten wäre es, wenn nur diese Personen, bei denen alle genannten Merkmale definitionsgemäß entweder übereinstimmend weiblich oder übereinstimmend männlich sind, als „Frauen“ oder „Männer“ gekennzeichnet und in die Untersuchungen einbezogen wären. Unsere Kultur gebietet aber die Zuschreibung eines Geschlechts zu jeder Person; und die psychologische Forschung pflegt nicht die Chromosomen, den Hormonspiegel, die inneren und die äußeren Geschlechtsorgane zu inspizieren, ehe Versuchspersonen als „weiblich“ bzw. „männlich“ eingetragen werden. Bei aller Begeisterung für die Idee der Androgynität wäre die Verweigerung einer Geschlechtsidentität – „du bis weder noch, ein Zwitter“ – eines der schlimmsten sozialen Schicksale, die jemand heute erfahren könnte. Es gibt in unserer Kultur keinen Zwischenraum zwischen den Geschlechtern.
Der beherzte Versuch der Biologen
Wellner
und
Broda
(1979), eine konsequente biologische Definition aus der geschlechtlichen Fortpflanzung abzuleiten, führt noch weiter in diese Sackgasse. Ganz richtig stellen sie fest, was alles zur Fortpflanzung dazugehört:
„geeignete Sexualorgane, geeignete sekundäre und tertiäre Geschlechtsmerkmale, geeignetes Verhalten, um die Erwachsenenrolle zu lernen, die Fähigkeit, einen Partner anzuziehen, die Fähigkeit, den Geschlechtsakt adäquat und hinreichend oft durchzuführen, die körperliche Fähigkeit zur Befruchtung, die Fähigkeit, lebende Kinder zu gebären und deren Leben zu erhalten“
(Wellner/Brodda
1979, 95).
Wenn das alles vorhanden sein muß, um männlich oder weiblich zu sein, bliebe wahrscheinlich ein Viertel oder ein Fünftel der Bevölkerung, ohne Geschlechtszuordnung. Die Definition ist nicht nur „sicher nicht pragmatisch“ wie die Verfasser feststellen; sie beschreibt nicht die gleiche Population wie die der psychologischen Beobachtungen und Experimente, denen wir das empirische Material über Geschlechtsunterschiede verdanken. Würden wir die biologische Geschlechterdifferenzierung an der Fortpflanzungsfähigkeit und -willigkeit festmachen, hätten ohnehin alle Aussagen der Biologie keine Relevanz für die Erklärung der empirisch zu beobachtenden Verhaltensweisen.
Eine solche Koppelung ist auch kurzsichtig. Sie geht von unzutreffenden Analogien zum Tierreich aus. Die Bedingung für das Überleben der Art ist bei den Menschen ganz gewiß nicht mehr die Fähigkeit und Willigkeit jedes einzelnen Exemplars, sich körperlich fortzupflanzen. Sehen wir nur, welchen Beitrag zur Umweltzerstörung, zu sozialen Konflikten, und zu anderen sozialen Problemen die ungebremste Bevölkerungsexplosion in der Welt leisten kann, so müssen wir die blinde Fortpflanzung geradezu als eine Gefährdung des Überlebens der Art (und vieler anderer Spezies!) ansehen. Menschliche Überlebensbedingungen sind schon von Anfang an prinzipiell andere gewesen als die der Tiere: gesellschaftliche Kooperation, intelligenter Werkzeuggebrauch und symbolische Vermittlung spielen eine enorme und grundsätzlich andere Rolle. Infolgedessen haben wir beispielsweise weit günstigere medizinische, hygienische und ernährungsmäßige Bedingungen für das Überleben jedes einzelnen Menschen geschaffen, als die Natur sie kennt. Die Relation zwischen Energieverbrauch/Umweltausbeutung und Personenzahl weist zwar beträchtliche Unterschiede in verschiedenen Weltteilen auf, sie ist jedoch überall so, daß das ökologische Gleichgewicht der Erde durch die schiere Zahl der Menschen und ihren Raubbau an der Natur akut gefährdet ist. Entweder die Definition der Geschlechtlichkeit durch die Fortpflanzung, oder die Einteilung der Menschen in zwei Geschlechter ist weltgeschichtlich überholt und – wenn das leitende Prinzip der Biologie das Überleben der Art sein soll – biologisch unbrauchbar geworden. Politisch sind zudem die Implikationen solcher Definitionsversuche (Zwangsheterosexualität) bedenklich.
Es bleibt also nur die Möglichkeit des induktiven Vorgehens: inwiefern sind die Menschen, die sozial als Angehörige verschiedenen
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