Sozialisation: Weiblich - männlich?
bereitstehende Erwachsene notgedrungen zur Zielscheibe massiver Wut-, Haß- und Rachegefühle und zum Gegenstand von Wunschfantasien, in denen sie ihre Macht für das Kind verfügbar machen, sozusagen als Flaschengeist eingesperrt werden können. Nun ist es aber von weitreichender Bedeutung, daß in einer patriarchalischen Gesellschaft diese Rolle faktisch wie symbolisch spezifisch Frauen zugewiesen wird.
Es ist hier kaum möglich, die Tiefe und Breite wiederzugeben, mit der
Dinnerstein
(1977) die in Erwachsenen weiterlebenden kindlichen Gefühle gegenüber der Mutter als erste Bezugsperson schildert:
Die Mutter ist das erste Du gegenüber unserem Ich, das erste eigenständige Subjekt, dessen Wille dem unseren entgegengestellt wird. Wir erleben sie in frühester Kindheit als allmächtig; aber da die frühkindlichen Wünsche unbändig und unrealistisch sind, erleben wir sie auch als eine Macht, die uns leiden läßt und sich willkürlich verweigert.
Die Mutter begleitet unsere ersten Schritte zur Eigenständigkeit: sie hat die Macht, sie zu fördern oder zu verbieten, ihre Anerkennung spiegelt uns unsere Erfolge zurück, aber sie ist auch Zeuge unserer vielen Niederlagen. Für die Selbständigkeit des Kindes ist es unerläßlich, sich gegen den Willen der Mutter zu behaupten, weil nur so die Gewißheit entsteht, daß es wirklich eigene Fähigkeiten und Stärken hat, nicht solche, die von ihrer Unterstützung abhängen. Dieser Kampf findet aber am Rande des Abgrundes statt,
denn
die Mutter ist noch unendlich stärker. So entsteht die Sehnsucht, den Schutz und die Macht der Mutter zu besitzen (Flaschengeistfantasie/Hausfrauenehe).
Die Mutter ist schließlich jahrelang die, die besser wußte, die schon gewarnt hat, daß es schiefgehen wird, wenn wir unseren Kopf durchsetzen – und hatte nicht selten recht. Das erzeugt Rachegefühle; da sie vorhergesehen hat, was passieren würde, ist sie auch schuld daran – und sie ist auch schuld, wenn sie nicht gewarnt hat.
Die Summe dieser aus früher Kindheit stammenden leidenschaftlichen Gefühle sind drei Wünsche: der Mutter zu entrinnen und völlig frei zu sein, sie zu beherrschen und sie zu bestrafen. Diese Gefühle werden in der Konfrontation mit dem Vater – selbst dann, wenn er herrschsüchtig ist – nicht auf gleiche archaische Weise hervorgerufen. Auch als Gegner ist er von vornherein ein anderer, nicht die Person, in der meine Ichgrenzen verschwimmen könnten, die mich psychisch überwältigen kann. Selbst wenn Männer mithelfen bei der Kinderpflege ist die Zuständigkeit und die Macht der Bedürfnisbefriedigung kulturell der Frau auf den Leib geschrieben. Dinnerstein betont nun, daß das Vorhandensein eines solchen zweiten Geschlechts, dessen eigentliche Provinz „draußen in der Welt“ ist, die Beibehaltung der unverarbeiteten infantilen Gefühle gegenüber der Mutter ermöglicht. Statt uns mit der Begrenztheit der möglichen Wunschbefriedigung wirklich auseinanderzusetzen, können wir die Fantasie der vollständigen Beglückung durch eine unendlich liebende dienstbare Frau aufbewahren. Statt den schmerzhaften Weg in die Selbstverantwortlichkeit haben wir den Ausweg der Spaltung: Solange ein Mann über uns bestimmt und keine Frau, ficht mich die Herrschaft in meinem Kern nicht an – und leichter als selbst verantwortlich zu sein ist es allemal. Auch infantile Haß- und Rachebedürfnisse können unverändert, weil abgespalten gelebt werden: daß eine Frau diese Gefühle provoziert haben könnte, wird allgemein eingesehen.
So ist gesellschaftlich gesehen gerade die Befreiung der Männer von der Last der Reproduktionsarbeit, ihr höherer Status, für wichtigere Dinge als Flaschen und Windeln zuständig zu sein, also kurzgefaßt ihre objektive Macht der Grund, warum innerpsychisch die Idee der unendlichen und überwältigenden Macht der Mütter erhalten bleiben kann. Die Macht der Mütter ist im genauen Sinne eine ideologische Verkehrung. Indem infantile Gefühle darin konserviert und gebunden werden, läßt sie sogar eine extrem männliche Herrschaft als rational, begrenzt und erträglich erscheinen verglichen mit dem unbewußten Bild der irrationalen, grenzenlosen Willkürherrschaft, die
eine
Frau symbolisiert.
Die Folgen dieser Sachlage für die unterschiedliche Entwicklung von Mädchen und Jungen sind vielfältig. Zum einen wird die Auseinandersetzung mit der Mutter dadurch schwieriger; ihre tatsächliche Ohnmacht erscheint ja als verweigerte Macht.
„In
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