Später Frost: Der erste Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
er sich bewegt?
Nyström fand, dass der Mann trotz seines fortgeschrittenen Alters einen vitalen, ja kräftigen Eindruck machte. Er hielt sich zwar während des einstündigen Vortrags an seinem Stehpult fest, aber immerhin stand er ohne Pause und sprach, ohne auf seine Notizen sehen zu müssen, mit fester, klarer Stimme. Auch wenn das Thema sehr speziell war, war seine Vorlesung unterhaltsam und pointiert, Melchior Balthasar Frost war ein Mann mit Witz und Geisteskraft gewesen. Sie wusste nicht, warum, aber es fiel ihr schwer, sich ihn mit Perücke und Kleid vorzustellen. Sie verdrängte den Gedanken, obwohl sie wusste, dass das vielleicht falsch war, dass sie wegen dieses Abwehrreflexes vielleicht etwas Wesentliches übersah. Von einem englischen Akzent fiel ihr nichts auf. Frosts Schwedisch war ausgezeichnet, es hatte sogar eine regionale Färbung.
Es war merkwürdig, sollte sie später denken, dass es ausgerechnet dieser Moment war, in dem die ganze Ermittlung kippte und in eine völlig andere Richtung taumelte, genau dieser Moment, in dem sie über Frosts Sprachmelodie und Klang nachdachte.
Die Tür öffnete sich, und Per Rydberg, der junge Beamte vom Empfang, trat in das Besprechungszimmer, gefolgt von einer sorgfältig frisierten älteren Frau. Er stellte sie als Svea Holmgren vor und betonte, dass er den Eindruck habe, die Dame könne etwas Wichtiges zum Fall Frost beitragen. Dann war Rydberg wieder weg. Nyström war über die Unterbrechung verärgert, Delgado hatte den Film gestoppt. Alle starrten die kleine, alte Frau an, die etwas verloren im Raum stand. Schließlich besann sich Nyström auf ihre Höflichkeit. Sie stand auf und gab Svea Holmgren die Hand.
»Ich bin Ingrid Nyström und leite die Ermittlung. Am besten, wir gehen in mein Büro.«
Nyström bot ihr einen Platz und eine Tasse Tee an, Holmgren setzte sich, behielt aber ihren Mantel an und ihre Handtasche auf dem Schoß, sie wirkte wie jemand, der es eilig hat und der gleich zur Sache kommen will.
»Ich habe gestern in der Zeitung von dem seltsamen Mordfall hier in Växjö gelesen, vom Tod des Schmetterlingszüchters. Und da bin ich gleich bei uns zur Polizei in Uppsala gegangen, aber man wollte mir nicht glauben. Ich hoffe, du hast ein offeneres Ohr. Denn ihr macht einen entscheidenden Fehler!«
»Was wollten sie dir bei der Polizei in Uppsala nicht glauben? Was machen wir für einen Fehler?«, fragte Nyström.
»Nun, in der Zeitung stand, dass der Ermordete Balthasar Frost heißt und aus England stammt. Aber das ist falsch. Der Mann heißt Henrik Larsson und kommt aus Uppsala.«
Nyström sah die alte Frau vor ihr lange an. Sie wirkte nicht wie eine Irre. Und sie schien ernsthaft an das zu glauben, was sie sagte.
»So. Henrik Larsson. Aus Uppsala. Und wie kommst du darauf?«
»Na, weil ich ihn auf dem Foto in der Zeitung erkannt habe!«, antwortete Holmgren mit Bestimmtheit.
»Henrik Larsson aus Uppsala?«
»Genau, Henrik Larsson aus Uppsala. Wir sind gemeinsam zur Schule gegangen, auf das Gymnasium. Er war ein Ass im Biologieunterricht und damals schon sehr an Insekten interessiert. Die Mädchen haben ihn manchmal Heuschrecken-Henke genannt. Aus Spaß natürlich, er konnte gut mit uns Mädchen.«
»Ach so. Und du bist dir vollkommen sicher, dass unser toter Schmetterlingsforscher dein Heuschrecken-Henke ist? Dass wir alle uns irren? Die Behörden, die Polizei, die Freunde von Frost?«
Nyström ließ ihre Worte einen Moment lang wirken, dann fuhr sie fort.
»Sag mal, wie lange hast du denn deinen Henrik vom Gymnasium eigentlich nicht gesehen?«
Die kleine Frau überlegte nicht lange.
»Das kann ich dir genau sagen. Er ist 1944 aus Uppsala weggezogen, kurz nach seinem Schulabschluss, weil er zum Studieren nach Stockholm gegangen ist. Ökonomie und Politik, trotz seines Interesses an Biologie. Damit kann man keine müde Mark verdienen, hat er gesagt. Im selben Jahr sind seine Eltern bei einem Hausbrand ums Leben gekommen. Ich war bei der Beerdigung damals, es war eine fürchterliche Tragödie. Das war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe. Im Winter 1944 war das.«
»Aha. Im Winter 1944.«
Nyström rechnete nach.
»Vor mehr als 65 Jahren also. Und du glaubst nicht, dass sich dein Henrik in dieser langen Zeit verändert haben kann? Überleg mal, das ist mehr als ein halbes Jahrhundert her! Du warst damals ein junges Mädchen!«
»Oh ja, das war ich in der Tat.« Svea Holmgren lachte auf, dann wurde sie wieder ernst.
»Aber
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