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Spaetestens morgen

Spaetestens morgen

Titel: Spaetestens morgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoe Jenny
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Scotchterrier, lag in der Bettfalte und schlief. Am Anfang war ich dankbar gewesen, dass Lucy sich jeden Abend in die Bettfalte legte; der Hund zwischen uns markierte eine Art Trennwand. In den ersten Nächten konnte ich die Augen erst schließen, wenn Paul eingeschlafen war. Ich konnte sehen, wenn er schlief, an der regelmäßigen Auf-und-ab-Bewegung seines Bauches und an seinem weit geöffneten Mund. Er schlief meistens auf dem Rücken. Manchmal war sein Atem so flach, dass sich sein Bauch nicht zu bewegen schien. Dann sah er aus wie tot. In der Dunkelheit starrte ich dorthin, wo sein Bauch eine Wölbung in der Decke formte, und nach ein paar Minuten, in denen er sich nicht regte, richtete ich mich auf und wollte ihn mit der Hand berühren, um zu sehen, ob er noch lebte, aber dann fing Paul plötzlich an zu schnarchen oder zuckte mit den Zehen, und ich konnte mich beruhigt auf meine Seite drehen und einschlafen.
    Wenn wir ausgingen, musterte er mich manchmal mit zusammengekniffenen Augen von oben bis unten und machte ein Kompliment wie: »Nicht schlecht« und drehte sich dann um. Paul war fünfundfünfzig Jahre alt und, wie er selbst sagte, bis zum Hals in einer um zehn Jahre verspäteten Midlife-Crisis.
    Sein Loft hatte eine breite Glasfront, von wo aus man den Hudson River und in der Mitte die Freiheitsstatue sehen konnte. Am Abend tauchte die untergehende Sonne den Horizont in ein tiefes Rot. »Was will man mehr, als mitten in Manhattan zu leben und eine solche Aussicht zu haben!«, sagte Paul dann und warf Eiswürfel ins Glas. Pünktlich um sechs Uhr abends machte sich Paul einen Drink. Seine Stimme wurde fester, und sobald die Sonne untergegangen war, schien er um Jahre jünger. Es war, als ob Paul im unscharfen Licht der Nacht aufatmete.
    Ich hatte Paul zufällig auf der Vernissage einer Fotoausstellung getroffen. Es gab so viele Leute in der Galerie, dass man sich kaum bewegen konnte. Andauernd wurde mir ein Ellbogen in die Seite gestoßen, oder es stand jemand auf meinen Füßen herum. Ich suchte den Ausgang, weil ich nach draußen an die frische Luft wollte, als plötzlich jemand seine Hand auf meine Schulter legte. »Was machst du denn hier?«, sagte ein fremder Mann in überraschtem, aber vertrautem Ton, wie man jemanden anspricht, den man schon lange kennt und nach ein paar Jahren plötzlich wiedertrifft. Ich blickte in sein großes sonnengebräuntes Gesicht. Tatsächlich war ich diesem Menschen nie zuvor begegnet. »Was machst du denn hier?«, sagte er wieder. Seine linke Augenbraue war nach oben gezogen, und sein ganzes Gesicht schien zu fragen. Ich zuckte mit den Schultern. Die Augenbraue senkte sich, und in einem spontanen Ansturm von Zuneigung legte er seine Arme um mich und drückte mich fest an sich. Mein Kopf versank in seiner frisch gewaschenen und nach Stärke riechenden Leinenjacke. »Wie gut, dich zu sehen!«
    Ich glaubte, dass er mich verwechselte, aber ließ mir nichts anmerken. Paul war groß und breit, und niemand trat zu nahe an ihn heran. An seiner Seite konnte ich in Ruhe die Bilder der Ausstellung anschauen. Eine Fotografie zeigte die Rückenansicht eines nackten jungen Paares; das Paar saß dicht nebeneinander, als würde es frieren, mit nassen, noch tropfenden Haaren an einem Pool. An der Farbe des Himmels konnte man sehen, dass die Sonne gerade untergegangen und das Wasser kalt war. Gleich würde das Paar aufstehen, sich anziehen und nach Hause gehen. Es war der kurze drohende Moment, die Sekunden, in denen sich eine angenehme und heitere Stimmung in ihr Gegenteil verkehrte. Paul schaute abwechselnd auf mich und auf das Bild. Dann drückte er mir seine Visitenkarte in die Hand. »Melde dich!«, rief er noch und verschwand in der Menge; in der willkürlichen Art eines Großstadtmenschen, der in der Lage ist, einen ohne ersichtlichen Grund zu umarmen und einem dann, von einer Sekunde auf die andere, den Rücken zu kehren.
    Zwei Wochen später musste ich aus meiner Wohnung in der Thompson Street ausziehen. Ich hatte bereits eine neue Wohnung gefunden, die aber erst vier Wochen später bezugsbereit sein würde. Ich plante, für diese Zeit ein Zimmer in einem kleinen Hotel downtown zu beziehen. Pauls Nummer fiel mir zufällig beim Packen in die Hände. Ich wollte die zerknitterte Visitenkarte schon wegwerfen, aber wählte stattdessen die Nummer.
    Er hatte die vertraute Stimme eines alten Freundes. Wir telefonierten, während ich meine Sachen in den Koffer verstaute. Ich dachte, dass er

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