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Spaetestens morgen

Spaetestens morgen

Titel: Spaetestens morgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoe Jenny
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abgeschlossen«, sagte Elena, blickte in Richtung Stadt, sah, wie die Rauchsäulen aus den Kaminen aufstiegen und für Sekunden Schatten an die Hochhäuser warfen, bis der Rauch sich auflöste.
    »Wo hast du den Abschiedsbrief eigentlich …«
    »… gut sichtbar auf den Küchentisch gelegt«, fiel sie ihm ins Wort. Dann schwiegen sie, nur die Papageien stießen von Zeit zu Zeit ihre kurzen schrillen Schreie aus.
    »Er wird diesen Brief wochenlang mit sich herumtragen und ihn noch lesen, wenn wir schon längst fort sind. Er wird es nie begreifen können, dass ich mit dir weggegangen bin«, sagte Phil nach einer Weile und zog eine Zigarette aus der Brusttasche.
    In Gedanken sah Elena den vom vielen Lesen verknitterten, schmutzig gewordenen Briefbogen. »Er wird uns verachten«, erwiderte Elena kühl, »und den Brief überall herumzeigen.«
    Phil beobachtete, wie oben auf dem Ast der alte Kondor seinen Kopf unter den Flügel schob. Niemand wird je kommen, den Kondor freizulassen. Er wird hier in diesem Käfig sterben, dachte Phil. Die Klarheit dieser Tatsache erschreckte ihn.
    »Ich glaube, er hat es geahnt«, sagte Elena plötzlich und sah die Sonne hinter den Wolken verschwinden wie ein sich langsam schließendes Auge.
    »Nein. Wie kannst du so etwas sagen. Er hätte nie erwartet, dass du ihn verlassen könntest. Schon gar nicht mit mir«, erwiderte Phil aufgebracht, »außerdem wart ihr so gut wie verheiratet.« Elenas Kopf fühlte sich plötzlich schwer an auf seiner Schulter, und er wünschte, sie würde ihn hochheben.
    »Bereust du es?«, fragte er schließlich und schnippte mit Daumen und Zeigefinger den glühenden Zigarettenstummel wie ein Geschoss ins nahe Gebüsch.
    Im Käfig pickte ein Papagei mit seinem harten Schnabel auf den zerrupften Kondor ein, der es nicht zu bemerken schien. »Morgen, wenn wir im Flugzeug sind, werde ich glücklich sein«, sagte sie entschlossen, hob den Kopf von seiner Schulter und wandte sich dem Käfig zu.
    In der Dämmerung bildete das Paar vor dem Gitter eine kleine dunkle Silhouette. Elena sah erschreckt den großen schwarzen Vogel an, dessen Anwesenheit sie erst jetzt bemerkte. Er hatte inzwischen die Schwingen, zwei riesige Arme, ausgebreitet, und an den Flügelspitzen zitterten die Federn wie angespannte gespreizte Finger. Der Kondor streckte seinen dünnen, verletzlich wirkenden Hals in die Höhe. Für Sekunden streifte Elena seinen kahlen, fast menschlichen Blick. Sie fuhr auf, und wie um sich vor einem Angriff zu schützen, machte sie einen Schritt zurück, als der Kondor zu seinem Flug gegen das Gitter startete.

Die Schatten von Pudong
    Als Ginza frühmorgens aus dem Haus trat, war der Himmel über Schanghai noch klar. Sonntag für Sonntag führte Ginza Touristen durch die Stadt. An diesem Morgen hatte sie sich etwas verspätet und musste sich beeilen, wenn sie pünktlich vor dem Peace Hotel sein wollte, wo sie von der Reisegruppe erwartet wurde. Das Herumführen von Touristen war nur einer der Jobs, den sie ausübte, um sich die winzige Wohnung mit ihren beiden Freundinnen Aya und Muto leisten zu können. Alle drei arbeiteten sie neben dem Fremdsprachenstudium, damit sie nicht wie die anderen Studenten auf dem Universitätsgelände wohnen mussten. Ihre Kolleginnen, die auf dem Campus lebten, teilten sich zu acht ein Zimmer und wurden dauernd beaufsichtigt. Den Studenten war es verboten, außerhalb des Geländes zu wohnen, aber die drei jungen Frauen fanden immer wieder Wege, die Gesetze und Regeln, die ihr Leben einschränkten, zu umgehen.
    Um die Wohnung finanzieren zu können, arbeiteten sie bis spät in der Nacht in Bars oder führten in Restaurants die Gäste zu ihren Tischen. In ihrer Freizeit gingen die drei Frauen selten allein aus, meistens traf man sie zu dritt an. Sie wussten, dass das Leben, so wie sie es führten, nur möglich war, weil sie zusammen eine Gemeinschaft bildeten, weil sie einander beistanden und sich halfen. Sie lebten in einer tiefen, unvermeidlichen Abhängigkeit, und vielleicht auch deshalb sorgten sie fast ängstlich füreinander und hüteten ihre Freundschaft wie etwas Seltenes oder Gefährdetes, das es zu schützen galt. Sie kamen oft erst nach Mitternacht von der Arbeit nach Hause, dann trafen sie sich in der Küche, setzten sich an den Tisch und schmiedeten Pläne.
    Wenn in der Stadt kurz nach der Sperrstunde die Lichter in den Häusern allmählich gelöscht wurden, war das kleine Rechteck ihres Küchenfensters noch bis in den frühen

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