Spaetestens morgen
hatte Blumensträuße, Kränze und Bilder vor die Absperrung gelegt. Hunderte von Blumen lagen, in Cellophan verpackt, auf dem Gehsteig. Lucy schnüffelte mit wedelndem Schwanz daran herum. Paul setzte sich auf den Randstein. Der süßliche Geruch der Pflanzen stieg von dem heißen Asphalt auf. Eine Fliege setzte sich in Pauls Haar. Sein weißes Hemd war durchgeschwitzt und klebte an seiner Brust. Er blickte den Taxis nach, die in Herden an uns vorbeifuhren. Ich hatte noch Sand in den Schuhen. Ich zog die Schuhe aus, und der Sand rieselte heraus. Menschen kamen vorbei und legten noch mehr Blumen auf den Gehsteig.
Ein kleiner Junge legte eine Zeichnung hin, er hatte einen Helikopter in einem Sturm gezeichnet. Er ging auf Paul zu. »Ich habe die Helikopter gesehen«, sagte er und deutete mit dem Finger in den Himmel. »Ein ganzer Schwarm«, fügte er hinzu. »Mein Vater hat gesagt, sie werden die Leichen nicht finden.« Paul blickte auf. »Natürlich werden sie sie finden!«, schrie er plötzlich den Jungen an, als würde sein Leben davon abhängen. Der Junge streckte Paul unbeeindruckt seine Hand hin, damit er aufstand. »Sie werden die Leichen finden!«, sagte er und packte wie verzweifelt die Hand des Kindes. »Spätestens morgen.«
Der Flug des Kondors
Den ganzen Tag hatte es geregnet. Erst in den letzten Nachmittagsstunden war die Sonne durch die Wolkenmassen gebrochen und stand jetzt leuchtend in einem kleinen blauen Hof am Himmel. Der Käfig stand im Schatten von vier Kastanienbäumen; mit der Zeit war das Gitter rostig geworden, und der Käfig wirkte verwahrlost und wie ein Fremdkörper am Rande des Waldes. Der beißende Geruch schlecht gehaltener Tiere, der vom Käfig ausging, vermischte sich im Sommer mit dem Geruch von Raps und warmer Erde.
Seit Stunden schlief der Kondor in der gedeckten Ecke des Käfigs, während die Papageien, in Gruppen versammelt, lauernd auf den Astbäumen hockten, als warteten sie auf ein Signal. Sobald sich der Kondor aufrichtete, flatterten sie auf und flogen, eine rotgrüngelbe Wolke, laut kreischend durch das Gehege. Einige Papageien verloren dabei Federn, die sich im Gitter verfingen oder auf den Boden segelten. Ruckartig, mit einem hinkenden Bein, steuerte der Kondor den Rest des Kadavers an, der ihm wie jeden Tag von einem Wärter in den Käfig geworfen worden war. Mit dem Schnabel zupfte und riss er daran, bis sein Kopf im offenen rohen Fleisch versank. Nachdem er die Beute verzehrt hatte, erreichte er, mit nur einem Flügelschlag, wieder seinen Ast, und die Papageien rückten gurrend und sich aufplusternd zur Seite. Der Kondor begann sein Gefieder zu putzen, indem er Feder für Feder durch den Schnabel zog; und als er fertig war, blieb er auf dem Ast sitzen, reglos wie träumend.
Der Feldweg, der vom angrenzenden Wald zum Käfig führte, war vom Regen aufgeweicht, und das Paar suchte, den Blick auf den Boden gerichtet, nach trockenen Stellen.
»Warum mussten wir nur herkommen?«, sagte die junge Frau und sprang hinter ihm über eine Wasserlache.
»Wenn ich mich schon von ihm nicht verabschieden kann, will ich wenigstens unseren Ort noch einmal sehen, den Ort, an dem wir uns jahrelang getroffen haben, Elena.«
Das Paar setzte sich auf eine Bank vor dem Gehege. Elena wandte sich vom Käfig ab und blickte, den Kopf auf seine Schulter gelehnt, auf den schmalen Waldstrich zurück, aus dem sie gekommen waren. Hinter den Baumwipfeln ragten die Kamine und Hochhäuser der Stadt empor.
»Hier war unser Versteck«, sagte er und hielt inne. Er fühlte die Last ihres Kopfes auf seiner Schulter und richtete den Blick auf den Kondor, als brauche er zum Reden jemanden, den er ansehen konnte. »Hierher flüchteten wir uns nach der Schule. Wir haben über den Kondor gelacht, weil er immerzu gegen das Gitter flog und von den Papageien angegriffen wurde. Wenn der Kondor schlief, war er unsere Zielscheibe, und wir haben Steinchen nach ihm geworfen. Irgendwann rechneten wir zum Spaß aus, wie viele Quadratmeter Flugraum dem Vogel eigentlich zur Verfügung stehen. Aber er nahm es plötzlich ernst und fand, es sei tödlich wenig. Dann kam er auf die Idee, den Vogel freizulassen. Mit einer Drahtschere wollte er das Gitter aufschneiden. Er war wie besessen davon, den Kondor zu befreien. Erst als er dann dich kennengelernt hat …«
Sie winkte harsch ab. »Phil, wenn wir schon unbedingt hierherkommen mussten, kannst du nicht wenigstens aufhören, von ihm zu reden? Ich habe mit ihm
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