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Spaetestens morgen

Spaetestens morgen

Titel: Spaetestens morgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoe Jenny
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Morgen hinein erleuchtet. Sie redeten über ihre Zukunft und davon, dass sie China verlassen wollten. Auf dem Küchentisch breiteten sie eine Weltkarte aus und steckten ihre Köpfe zusammen. Die Lampe über ihnen warf einen Kegel aus Licht auf den Tisch, genau dort, wo sich ihre Oberkörper über die Weltkarte beugten. Ginza fuhr mit dem Stift über die Karte, um an den Ortsnamen, die ihnen vielversprechend erschienen, ein kleines rotes Kreuz anzubringen. Während dieser Sitzungen tranken sie literweise rauchigen Tee. Immer wieder stand Aya auf, um frischen zu machen, und das Geräusch des kochenden Wassers vermischte sich mit ihren Stimmen. Sie sagten die Ortsnamen laut und gedehnt vor sich hin, als prüften sie den Klang. Denn es war der Klang des Wortes, der entschied, welche Orte in Frage kamen und welche nicht. Sie riefen Städtenamen, die Namen von Flüssen, Seen, Bergketten und Inselgruppen durcheinander, gestikulierten mit den Händen vor Aufregung und wurden still, wenn ihnen plötzlich klar wurde, wo sie waren, und dass es ihnen noch lange nicht möglich sein würde, aus Schanghai herauszukommen.
    Aber jedes Mal, wenn sie so zusammensaßen, wurde ihr Wille größer, wie etwas, das sie härter und stärker machte. Sie teilten ihr Vorhaben wie ein wertvolles Geheimnis. Sie dachten daran und tauschten verschwörerische Blicke, wenn sie sich mit den anderen Studenten auf dem Rasen des Sportplatzes versammelten, auf dem pünktlich um acht Uhr morgens die Nationalfahne gehisst wurde. Zu einer lauten Musik und der Stimme des Sportlehrers mussten sie dann alle ihre Beine und Arme in die gleiche Richtung strecken, als wären sie nicht viele verschiedene, sondern ein einziger großer Körper.
    Ginza eilte über den Markt zur Busstation. Wenn sie frühmorgens mit nüchternem Magen über den Markt ging und all die unterschiedlichen Gerüche einatmete, überfiel sie immer eine leichte Übelkeit. In Plastikbecken schwammen Meerestiere, frisch gefangene Fische hingen an Haken, glitzerten metallisch im Morgenlicht. Es roch nach dem heißen Öl der Garküchen, die gefüllte Teigtaschen anboten. Zum Frühstück kaufte sich Ginza immer bei einem alten Mann einen mit Zucker überzogenen Granatapfel. Sie kämpfte sich in den Bus, drinnen war es heiß, weil die Lüftung nicht funktionierte, und die Menschen schubsten einander mit ernsten Gesichtern zur Seite; aber für Ginza war es wie ein Spiel. Sie ruderte mit den Ellbogen und ergatterte einen Fensterplatz. Erleichtert ließ sie sich in den Sitz fallen. Sie rollte den Granatapfel im Mund, bis sich der süße, hart gewordene Zucker auflöste, und biss in das weiche Fruchtfleisch. Die Fahrt ins Stadtzentrum zum Bund dauerte mindestens eine Stunde, und sobald sich der Bus in Bewegung setzte, schlossen jene, die einen Sitzplatz hatten, die Augen. Sie lehnten sich in ihren Sitzen zurück, und ihre Köpfe wackelten hin und her, als hätten sie keine Kraft, wie die Köpfe von Säuglingen, die noch keinen Halt haben. Einige schliefen auch im Stehen. Der Bus war so voll, dass die Körper einander stützten und niemand sich bewegen oder hinfallen konnte. Eingeklemmt zwischen Lastwagen kam der Bus nur langsam voran. Ginza blickte durch das staubige Fenster; sie konnte Hunderte von Menschen sehen, die sich auf schwarzen Fahrrädern zwischen den stehenden Wagen hindurchschlängelten. Auf den Kreuzungen kamen die Fahrräder aus allen Richtungen und fuhren frontal aufeinander zu. Erst im letzten Moment rissen die Fahrer den Lenker herum und wichen einander um Haaresbreite aus. Ginza wartete aufgeregt auf den Augenblick, an dem der Huangpu-Fluss sichtbar wurde. Er war die Schneise, die die Stadt teilte. Niemand kannte die Stadt so gut wie Ginza. Sie kannte alle Viertel und Straßen, und manchmal dachte sie, dass sie in der Stadt umherging wie in einem Körper, der langsam wuchs und dessen Anatomie sich täglich veränderte. Schon seit einiger Zeit beobachtete sie neugierig und fasziniert, wie sich der Stadtteil Pudong auf der anderen Seite des Huangpu-Flusses in eine eigene Stadt verwandelte. Abgetrennt durch den Fluss, schien dort allmählich ein neuer Körper zu entstehen. Die Straßen, die gebaut wurden, und Hochhäuser, die Woche für Woche neu hinzukamen, waren erst das Skelett. Immer wieder schoss ein neues Gebäude in die Höhe. Aber es gab, außer den Bauarbeitern, kaum Menschen dort, und die neu errichteten Gebäude standen fast alle leer. Nachts blieb es dunkel in Pudong. Die beiden

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