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Spaetestens morgen

Spaetestens morgen

Titel: Spaetestens morgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoe Jenny
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als sie ins Zimmer kam und auf den Kissen ihre schlafenden Gesichter sah, legte sie sich neben sie. Sie schliefen zu dritt in einem Bett, und Ginza kam es in diesem Moment vor, als wären sie zusammen auf einem Floß, mit dem sie vergebens versuchten, ans Ufer zu kommen, das zwischen den hohen Wellen kurz aufblitzte, bevor es plötzlich wieder für lange Zeit verschwand.
    Ginza führte die Reisegruppen zum Schluss ihrer Tour immer in das älteste Viertel Schanghais. Da standen die schmalen Häuser so dicht beieinander, als wären sie miteinander verwachsen. Wie Fahnen flatterte die Wäsche vor den Häusern. Es war die verwahrloseste Gegend der Stadt, und in den meisten Häusern gab es kein Wasser. Morgens trugen weißhaarige Chinesinnen den hölzernen Nachttopf raus, um ihn in den Jauchewagen auszuleeren. Im Sommer, wenn es auch abends keine Abkühlung gab, trugen die Menschen die Betten vor ihre Häuser, weil es drinnen zu heiß war. Ginza verstand nicht, warum die Touristen das alles sehen wollten und Fotos davon machten, während auf der anderen Seite des Flusses eine neue, saubere Stadt entstand. Dann dachte sie daran, dass die Europäer Menschen waren, die das Essen mit einem Messer zerschnitten, in kleine Stücke zerteilten, bevor sie es mit einer Gabel aufspießten und zum Mund führten. Dies war ihr immer unbegreiflich gewalttätig und brutal vorgekommen.
    Als Ginza die Reisegruppe in die Nanjing-Lu-Straße zum Peace Hotel zurückführte, waren die Spitzen der Hochhäuser von Pudong im Dunst verschwunden. Immer tiefer senkte sich im Laufe des Tages der Smog. Manchmal war er so dicht, dass man die andere Straßenseite nicht mehr sehen konnte und die Sonne nur noch als eine schemenhafte Silhouette am Himmel stand. Vor dem Hoteleingang nahm Ginza ihr Geld entgegen und bedankte sich. Das englische Ehepaar schien froh zu sein, dass der Rundgang zu Ende war, sie waren bleich, und die Frau fächelte sich schon seit geraumer Zeit mit einer Zeitung frische Luft zu. Die beiden deutschen Kinder hatten aufgehört zu streiten, sie waren unterwegs müde geworden und hielten sich an ihrer Mutter fest. Ihr Vater starrte immer noch in die Okularmuschel, und als sich Ginza schon verabschiedet hatte, filmte er ihr nach, bis sie in der Menschenmenge verschwand.
    An diesen Sonntag hatte sich Ginza mit ihren beiden Freundinnen an der Promenade beim Fähranleger verabredet. Sie wollten nach Pudong fahren und sich das soeben eingeweihte Jinmao Building anschauen. Sie nannten es nur »den schwarzen Turm«. Seit Monaten hatten sie beobachtet, wie er höher und höher wuchs, sie hatten Wetten abgeschlossen, wie lange es noch dauern würde, bis er fertig war; aber immer kam noch eine Etage hinzu, und manchmal hatte man die Spitze tagelang nicht sehen können, weil sie unter der Dunstglocke verschwand. Aber wenn ein starker Wind den Dunst wegblies und die Turmspitze für ein paar Stunden freilegte, war das Gerüst noch da, und sie konnten sehen, wie Menschen darin herumkletterten, winzig wie Ameisen.
    Auf dem Deck der Fähre blies ihnen der Wind ins Gesicht. Ayas schwarzes Haar flatterte in allen Richtungen um ihren Kopf. Ginza erzählte, dass sie heute einen Verrückten mit einer Kamera in der Gruppe gehabt habe, der alles filmte, nur seine Frau und seine Kinder nicht. Aya und Muto tippten sich an die Stirn und lachten gegen den Wind. Ginza war froh, dass die Tour vorbei war und sie die alte Stadt nun im Rücken hatten. Sie standen dicht nebeneinander an der Reling und blickten auf Pudong. Auf leerstehende Hochhäuser, Kräne, Lastwagen, Sand- und Kieshügel. Auf der anderen Seite war die Luft kühler und frischer. Sie gingen an den Bauzäunen vorbei, und als sie vor dem Jinmao Building ankamen, das sich wie eine senkrechte schwarze Wand vor ihnen aufbaute, duckten sie sich ein wenig und blieben stehen. Als ein Taxi vorfuhr und eine Gruppe von Leuten ausstieg, schlossen sie sich sofort an und liefen ihnen hinterher, weil sie sich allein nicht trauten, das Gebäude zu betreten. Innen war es hell vom polierten Marmor, und die Klimaanlage stieß eiskalte Luft aus, so dass sie sich fröstelnd die Arme rieben. In einem Expressfahrstuhl wurden sie innerhalb weniger Sekunden ins 88. Stockwerk katapultiert. Sie verspürten nur einen leichten Druck in den Ohren. Sobald sie ausstiegen, bemerkten sie, dass das Innere des Turms hohl war. Sie beugten sich über das Geländer und blickten hinunter wie in eine Schlucht. Die 555 Zimmer gruppierten sich

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