Spaetestens morgen
kugelförmigen Space Cabins des Fernsehturms, in denen sich ein Hotel und ein Restaurant befanden und die durch einen gläsernen Lift miteinander in Verbindung standen, leuchteten nachts wie zwei kleine Planeten.
Das Jinmao Building war soeben fertiggestellt und eingeweiht worden. Wochenlang hatte man es im Fernsehen als den höchsten Wolkenkratzer Chinas präsentiert. Aber auch dieser stand leer, nur vom 55. bis zum 88. Stockwerk war ein Hotel eingerichtet worden. In der Dunkelheit leuchtete die Spitze des Turms wie ein schwebendes, leuchtendes Dreieck auf einer schwarzen Säule. Die Menschen blickten mit einem Ausdruck von Befremden auf Pudong, das einst eines der größten Elendsviertel gewesen und dann dem Erdboden gleichgemacht worden war. Ginza hätte die Leute gern nach Pudong geführt, zu den neuen Gebäuden und zu den Baustellen, die so groß waren wie Fußballfelder. Aber die Touristen wollten davon nichts wissen und immer nur zu denselben alten Orten gebracht werden, zu den Sehenswürdigkeiten, die sie aus ihren Reiseführern schon kannten und die ihnen vertraut waren.
Die Sonne war jetzt nur noch schemenhaft am gelblichen Himmel zu erkennen. Der warme Dunst der Stadt wurde stündlich dichter. Der Bus fuhr unter einer Hochstraße durch, die von schmalen Betonsäulen getragen wurde, und Ginza musste dabei immer an magere Beine denken, auf denen ein viel zu schwerer Körper lastete. Die Hochstraßen wanden sich wie Adern durch die Stadt, und nachts wurden sie von den Scheinwerfern der Autos in blitzendes gelbes, rotes und blaues Licht getaucht.
Ginza stieg dort aus, wo der Bund anfing und sich mit seinen prachtvollen Fassaden gen Norden zog. Die alten Gebäude blickten über den Fluss hinweg auf das neue Pudong, das auf bedrohliche Weise wuchs und immer größere Schatten warf. Der Bund wirkte mit seinen Gebäuden aus dem 19. Jahrhundert dadurch noch zerbrechlicher, und manchmal verspürte Ginza für diesen Stadtteil, der aus einer längst vergangenen Zeit zu kommen schien, fast Mitleid. Ginza bog rasch in die Nanjing-Lu-Straße; schon von weitem konnte sie das spitz zulaufende grüne Dach des Peace Hotels erkennen. Vor dem Eingang erwartete sie bereits ihre kleine Reisegruppe.
An diesem Sonntag bestand die Gruppe aus einem englischen Ehepaar und einer Familie aus Deutschland mit zwei Jungen, die zwischen acht und zehn Jahre alt waren und sich ununterbrochen stritten. Ginza führte ihre Gruppen immer in der gleichen Reihenfolge zu den Sehenswürdigkeiten und erzählte dazu auf Englisch die immer gleichen Geschichten. Das englische Ehepaar lauschte ihr mit wissend verschränkten Armen, während die deutsche Mutter mit grober Hand abwechselnd die Schultern einer ihrer Söhne packte und sie zurechtwies, sie sollten doch endlich der Reiseführerin zuhören. Ihr Mann ging immer etwas abseits, als wolle er vermeiden, dass man ihn mit seiner Frau und seinen Kindern in Verbindung bringe. Er trug eine kleine Videokamera bei sich, starrte von oben durch die schwarze Okularmuschel, ohne je den Blick zu heben, so, als wolle er darin versinken. Jedes Detail, auf das Ginza hinwies, nahm er auf. Nicht einmal auf dem Weg zwischen den Sehenswürdigkeiten hielt er inne. Scheinbar ziellos schwenkte er mit der Kamera über die Straße, hielt die Menschen fest, die ihm entgegenkamen, und manchmal nahm er auch Ginza ins Visier und das englische Ehepaar. Nur seine Familie filmte er nicht.
Immer wenn sich Ginza vor eine der Sehenswürdigkeiten stellte und Jahreszahlen repetierte, blickte sie der englische Ehemann skeptisch an, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, als zweifle er an der Richtigkeit ihrer Erklärungen. Ginza kannte diesen ungläubigen Ausdruck in den Augen ihrer Zuhörer, schon oft hatte sie bemerkt, dass es die Männer, die dreißig oder vierzig Jahre älter waren als sie, nervös machte, wenn sie ihnen etwas erzählte, von dem sie noch nichts wussten. Manchmal fielen sie ihr auch ins Wort und erzählten dann ihrerseits, was sie alles über China gelesen hatten. Ginza ließ das gewöhnlich schmunzelnd und freundlich nickend über sich ergehen. Nur einmal hatte sie die Führung vollständig an einen kleinen, etwa fünfzigjährigen Mann verloren.
Sie hatte schon von Beginn an beobachtet, wie er mit lauerndem Gesichtsausdruck ein paar Meter hinter der Gruppe herging. Als sie schließlich das Schanghai-Museum betraten und sie die Gruppe zu der Ausstellung mit den Jadebuddha-Figuren führte, für die das Museum
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