Spaetestens morgen
Himmel frei. Yako konnte die Spitze des Tokyo Towers erkennen, dessen Lichter in der Nacht wie rote Augen in der Dunkelheit aufblinkten. Meist konnte er nicht einschlafen, dann nahm er das Flugticket aus seinem Koffer und starrte auf die Abflug- und Ankunftszeiten. Hinter den Zahlen tat sich die beunruhigende Gewissheit auf, dass ihn am Flughafen von L. A. niemand erwarten würde und dass er kaum Englisch sprach, und dann hörte er die beschwörende Stimme des Vaters, die Warnungen seiner Freunde, die Stimmen vermischten sich in seinem Kopf zu einem einzigen höhnischen Gelächter. Yako lehnte sich mit seinem Oberkörper über den Badewannenrand, wie man sich aus einem Boot lehnt, und starrte auf sein Saxophon, das stumm und silbern dort auf dem Badezimmerboden lag. In Gedanken sah er sich an einem Straßenrand von L. A. stehen, gegen das Gelächter anspielend und gegen die Einsamkeit, die sich immer mehr vor ihm ausbreitete, wie ein weites, blühendes Feld, auf dem die Pflanzen begannen, allmählich über seinen Kopf hinweg zu wuchern und alles Licht zu schlucken.
Am Morgen seiner Abreise stand er wie immer um halb sechs Uhr auf, um das Badezimmer für Mutsuko und Mira freizumachen. Sie umarmten einander lange zum Abschied. Es blieben ihm noch ein paar Stunden bis zu seinem Flug, und er ging, nachdem die beiden die Wohnung verlassen hatten, noch einmal ins Badezimmer zurück. Überall glitzerten Wassertropfen, er atmete den klaren Duft von Jasmin und Lavendel. Er setzte sich auf den Rand der Badewanne und blies in sein Saxophon. Als das Parfum, das die Mädchen hinterlassen hatten, schon längst durch das geöffnete Fenster entwichen war, schickte er dem verlorenen Duft seine Klänge nach, in den Lärm der Stadt hinein. Yako stellte sich vor, dass die beiden irgendwo da draußen wären und ihn vielleicht hören könnten. Er spielte lauter, so laut, dass die Nachbarn anfingen zu protestieren, mit Besenstielen gegen die Decke klopften, und später, als er mit immer kräftigerem Atem ins Mundstück blies und das Flugzeug, das ihn hätte nach L. A. bringen sollen, längst abgehoben und Japan hinter sich gelassen hatte, trommelten sie mit Fäusten gegen die Wohnungstür und drohten mit der Polizei. Als Mutsuko und Mira am Abend nach Hause zurückkehrten, hatte sich vor ihrer Wohnung eine Menschenmenge gebildet. Sie konnten gerade noch verhindern, dass ein Mann mit einem Brecheisen die Tür öffnete. Hinter ihnen drängten sich die Nachbarn mit neugierigen Blicken in die Wohnung. Sie fanden Yako im Badezimmer auf dem Rand der Badewanne sitzend, er spielte auf seinem Saxophon und war so verbunden mit ihm, dass man meinte, es sei an seinem Körper angewachsen. Nur mit Gewalt konnte man ihm sein Instrument entreißen. Es war Nacht geworden, und im winzigen Badezimmerfenster waren zwei rote Lichter zu sehen, die wie ein Signal ins Dunkel blinkten.
Ein Geschenk für Miss Lesly
Am späten Nachmittag hatten die meisten die Klinik schon verlassen. Am Abend, als schließlich auch alle Patienten der offenen Abteilung abgeholt oder zu ihren Familien gegangen waren, um zu feiern, wurde es still in den Räumen. Im schwarzen Fensterrechteck des Aufenthaltsraumes spiegelten sich die elektrischen Kerzen des Weihnachtsbaumes, der jedes Jahr neben der Tür aufgestellt wurde, für diejenigen, die zu niemandem gehen konnten und über Weihnachten in der Klinik bleiben mussten. Im Aufenthaltsraum saßen Elma und die alte Mona auf dem Sofa. Ein Pfleger, der das Pech hatte, am Heiligabend die Nachtschicht zugeteilt bekommen zu haben, hockte etwas abseits an einem kleinen Tisch, über ein Kreuzworträtsel gebeugt. Die alte Mona saß mürrisch inmitten ihrer Wollknäuel und strickte. Niemand, weder die Pfleger noch die Patienten, hatten in ihrem Gesicht je ein Lächeln gesehen. Sie strickte hastig, und manchmal murmelte sie zornig klingende Worte vor sich hin. Ein Wall von Wollknäueln trennte sie von Elma, die sich so weit wie möglich von Mona weg in die Sofaecke drückte und auf Miss Lesly wartete. Miss Lesly, die behauptete, ein weltberühmter Filmstar zu sein. Niemand in der Abteilung wusste, wer Miss Lesly war und wie sie wirklich hieß. Sie wurde von allen Patienten, außer von Mona, ihres extravaganten Auftretens wegen geachtet. Als Miss Lesly in einem Abendkleid aus blauem Chiffon den Raum betrat und sich vor den Weihnachtsbaum stellte, wurden Monas Augen noch kleiner und feindseliger. Miss Lesly hatte ein schmales Gesicht, und ihre
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