Spaetestens morgen
matten verblassten Augen schienen wie nach innen gerichtet. Um den Hals trug sie eine Federboa, und die Spitzen hingen wie erschöpft von Miss Leslys Schultern.
»Komm, wir wollen heute Abend ausgehen«, rief sie Elma fröhlich zu, die sich freute, dass man mit ihr etwas unternehmen wollte. Elma saß oft stundenlang schweigend herum.
»Nein. Es ist besser, Sie bleiben alle hier. Kein Lokal hat heute geöffnet, und es hat soeben zu schneien begonnen«, sagte der Pfleger, ohne aufzublicken. Sein Bleistift kratzte leise auf dem Papier. Miss Lesly ging zum Fenster, und der schwere dunkle Geruch ihres Parfums verteilte sich im Raum. Enttäuscht blickte sie hinaus. Die Schneeflocken flogen horizontal am Fenster vorbei, und dahinter strahlte die Stadt mit ihren hell erleuchteten Fenstern.
»In den Filmen, in denen ich gespielt habe, wurde Weihnachten gefeiert, und zwar richtig, mit allem Drum und Dran«, protestierte Miss Lesly aufgebracht. »Da waren richtige große Weihnachtsbäume mit dicken duftenden Nadeln. Und jeder hatte so viele Geschenke bekommen, dass er darin ertrinken konnte. Tausende von Wunderkerzen brannten in einer einzigen Nacht nieder …«
»Ach was«, fiel ihr die alte Mona ins Wort, »was wissen denn Sie schon, wie man Weihnachten feiert. Meines Wissens wird am Heiligabend nichts anderes getan als gesungen.«
Während Mona und Miss Lesly sich stritten, erinnerte sich Elma an ihre Kindheit, an die Aufregung beim Anblick des wunderschönen Weihnachtsbaumes und an das geheimnisvolle Geräusch raschelnden Seidenpapiers. Miss Lesly kam vom Fenster zurück, setzte sich ganz nah neben Elma auf das Sofa und fragte, wie sie denn, als sie noch »draußen« war, Weihnachten gefeiert hatte. Aber Elma hatte sich über die Jahre in ihrer Einsamkeit eingerichtet wie in einem alten vertrauten Haus und war es gewohnt, ihre Gedanken für sich zu behalten. »Elma hat gar nie gefeiert«, sagte Miss Lesly abschließend, zündete sich eine Zigarette an und stieß den Rauch in zwei dunklen Wolken durch die Nase aus, als ein junger Mann den Raum betrat.
Der Pfleger schaute auf und legte das Kreuzworträtsel beiseite. Auch die alte Mona hielt inne und starrte den Fremden an. Das Gesicht und die Hände des Mannes waren rot von der Kälte, und auf den Schuhen haftete Schnee. »Mutter!«, rief er und stellte sich vor Miss Lesly. Er sah mit ausgestreckten Armen auf sie herab und schien darauf zu warten, dass sie aufstand, damit sie sich umarmen konnten. Aber Miss Lesly blickte, ohne ihn zu beachten, rauchend an ihm vorbei und redete auf Elma ein. Der Schnee schmolz auf seinen Schuhen und bildete eine kleine Wasserlache. Nach einer Weile zog der junge Mann ein Paket aus der Manteltasche und legte es auf den Tisch. Auch als er sich verabschiedete, beachtete ihn Miss Lesly nicht. Sobald Elma und Miss Lesly in ihre Zimmer gegangen waren, legte die alte Mona ihr Strickwerk ab, nahm das Geschenk an sich und öffnete es. In dem Seidenpapier war ein Flakon eingewickelt, und als sie daran roch, war es unverkennbar Miss Leslys Parfum. Sie wickelte das Fläschchen wieder ein, und als sie es schnell in ihre Tasche steckte, huschte für Sekunden ein kleines Lächeln über ihr Gesicht. Dann erfüllte das rasche Klappern ihrer Stricknadeln wieder den Raum, und ab und zu hörte der Pfleger, wie sie mit dem Wollknäuel wie mit einem Gegner schimpfte, der von Stunde zu Stunde kleiner wurde.
Der Tag ist da
Die Pension Zum Englischen Garten liegt im ersten Stock eines Mietshauses, und wenn es windet, schlägt das schief hängende Schild blechern gegen die Fassade.
Drei Zimmer liegen zur Straße. Von ihnen blickt man in das gegenüberliegende Schaufenster eines Elektrofachgeschäfts, in dem Kugellampen ohne Unterbrechung, Tag und Nacht, in allen Farben aufblinken.
Neben dem Geschäft stehen Wohnhäuser mit großen getönten Glastüren. Weder Rosalie noch einer der Gäste, die in diesen Zimmern aus dem Fenster geblickt haben, haben je durch diese Türen jemanden hinein- oder hinausgehen sehen. Ab und zu hält ein Taxi vor der Pension, sonntags spazieren italienische Gastarbeiterfamilien die stille Straße hoch.
Die Besitzerin der Pension Zum Englischen Garten wälzt sich um sechs Uhr früh in einem Doppelbett aus hellem Buchenholz, dem Ehebett ihrer verstorbenen Eltern. Rosalie schlägt die Augen auf. Sie fühlt den Atem warm an den Nasenwänden hinaus in die Bettdecke strömen, die sie bis zur Stirn hochgezogen hat und die sich wie ein
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