Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens
her. Man komplettiert sich. Weil man ja doch nicht nur der reduzierte, defizitäre ältere Mensch ist, sondern auch das Kind, der Starke, der Junge, der man mal war. Mit sentimentalem Eifer und kindlicher Lust fügt man dem Status quo jene vergangene Kraft und Herrlichkeit hinzu, die man einmal besaß, als elementares Eigentum. Sich an seine Kindheit erinnern heißt einen Teil von sich zurückholen, der im Erwachsenenalter oft genug verschüttet wurde – das Staunen über die Dinge des Lebens, das Jauchzen und Frohlocken, der Glaube an Wunder und weiße Elefanten. Die Kinderjahre, sagt Schopenhauer und meint damit die Zeit, bis man ungefähr fünfzehn ist, die Kinderjahre seien fortwährende Poesie, alles sei mit dem Lack des Neuen überzogen. Die Dinge und Erscheinungen liegen vor dem Kind ohne die Abstumpfung der Wiederholung. Das Kind sieht die Dinge an, als wären es die einzigen ihrer Art, und in jedem Einzelnen ist das Wesen des Lebens. Das Kind sieht, der Erwachsene will. Das, so der Philosoph, sei das Ende der Glückseligkeit: »Alle Dinge sind herrlich zu sehn, aber schrecklich zu sein.« Das Kindesalter schaffe die meisten Erinnerungen. Je älter man werde, je weniger Spuren enthalte die abgelaufene Zeit. Daher erinnern wir uns der früheren Jahre besser als der späteren. Ich erinnere mich an das Kind, das ich war, mit Distanz.
Das Kind hatte den November, auch den Dezember, im Bett gelegen. Nicht, weil es krank gewesenwäre, sondern weil es ein kalter Winter war, weil es keine Kohlen gab, und weil das Kind keine richtigen Schuhe hatte, nur welche aus Igelit, und von denen kriegte es Frostbeulen. Manchmal kam die Mutter, eine strahlende, große, unbeherrschte Frau, die dauernd unterwegs war, um was zu essen ranzuschaffen, manchmal kam sie ans Bett des Kindes und schenkte ihm einen Negerkuss. Der war weiß, mit milchfarbener, süßer Creme umhüllt, für richtige Negerküsse fehlte die Schokolade. Einmal hatte sie ein Bild mitgebracht, eine Zeichnung unter Glas, darauf ein Mädchen in einem roten Kleid und einem Spatz in der Hand. Darunter stand: »Vöglein, flieg in die Welt hinaus«. Ringsherum war Sommer. Das Kind auf dem Bild hatte ein Gesicht aus Friedenszeiten, rund und gesund, anders als das dünne Geschöpf im Bett, dem die Mutter immer sagte, es sehe aus wie Braunbier mit Spucke. Weihnachten wurde das Zimmer geheizt. Das Kind durfte aufstehen und auf die Bescherung warten. Als sich die Tür öffnete, dachte das Kind, dies wäre das Paradies, darauf war es nicht vorbereitet. Neben dem Tannenbaum stand ein richtiger Puppenwagen mit —einer richtigen Puppe drin. Nicht aus Lumpen und Lappen, sondern mit Armen und Beinen aus Porzellan, mit richtigen Augen, Schlafaugen sagte man damals. Daneben lag ein Waschbrett, graublau, mit Holzrahmen, für die Puppenwäsche. Das Kind war starr vor Glück, die Geschenke machten es sprachlos. Weinend schob es den ganzen Weihnachtsabend lang den Puppenwagen durch das Zimmer. Vierzehn Tage lang spielte es mit Puppe und Wagen und begann langsam zu begreifen, dass die Dinge ihm wirklich gehörten.
Eines Tages, und der sollte bald sein, erklärte die Mutter dem Kind, dass es alles wieder hergeben muss, die Puppe, den Wagen und das Waschbrett. Die Familie habe nichts zu essen, deshalb müsse sie zu den Bauern aufs Land fahren und die Dinge gegen einen Sack Kartoffeln eintauschen. Der Großvater leide an der Hungerkrankheit, das Kind habe ja gesehen, wie ihm das Blut an den Beinen herunter lief, wenn er aus dem Bett aufstand. Das Kind sah alles ein, es leistete keinen Widerstand, es war nicht einmal besonders traurig. Vielleicht begann Sylvies Angst vor dem Glück hier. Die Angst vor der Enttäuschung. Die Angst, dass etwas Schlimmes passieren könnte, sobald sie glücklich ist. Vielleicht hatte es hier angefangen, in der dunklen, kalten Kriegskindheit, die Sylvia dennoch als wundersam in Erinnerung hat. Sie freut sich noch heute über Dinge, die eigentlich selbstverständlich sind; vielleicht kann man das nur, wenn man den Mangel erlebt hat, vielleicht.
Gestern war der Seifenblasenmann auf dem Platz vor unserem Haus. In unregelmäßigen Abständen erscheint er mit einem Seifenlaugeneimer und einem Gerät, das riesige Seifenblasen zaubert. Die Kinder kommen angelaufen und gucken gebannt auf die bunten Gebilde, die entstehen, für kurze Zeit bleiben und verenden, sie steigen in die Höhe und gehen auf ihrem Weg in den Himmel zugrunde. Der Seifenblasenmann in seiner roten
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