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Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens

Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens

Titel: Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Voigt
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hatte die lebenslange Folge, dass ich mich bei kaltem Licht einsam fühle.
    »Ein Lichtbild 40 Cent« – auf dem Asphalt vor einem Trödelladen steht ein Wäschekorb mit Fotos. Alle schwarzweiß, viele gezackt am Rand, sechs mal sechs oder sechs mal neun Zentimeter groß. Hunderte von vergangenen Gesichtern. Ich krame in den Bildern aus fremden Kisten und Alben, manche sind auf der Rückseite beschriftet: »Sonntag 5.   3.   1944 Klein-Machnow, Ullachens Einsegnung. Onkel Paul, Tante Helmi, Erika Pulod, Onkel Ferdinand, Rudi (in Uniform), Mariannchen«. Ullachen ist 1944 also vierzehn Jahre alt gewesen, Ullachen mit hochgestecktem, dunklem Haar und einem Mantel mit schwarzem Samtkragen. Jetzt ist Ullachen zweiundachtzig Jahre alt oder tot, das Foto stammt aus einem Nachlass, vermutlich nicht aus ihrem,sondern aus dem eines älteren Familienmitglieds, für das sie einst »Ullachen« gewesen war, die Kleine. »Vati im August 1954 auf unserem Balkon«, so die Beschriftung auf der Rückseite eines anderen Lichtbildes. Ein korrekt gekleideter Mann mit Zigarre und Hornbrille, der einen Brief liest und dem man ansieht, dass er der Chef in der Familie ist. »Vati« weilt vermutlich schon lange nicht mehr auf dieser Welt, 1954 dürfte er Ende fünfzig gewesen sein, geboren also am Ende des neunzehnten Jahrhunderts.
    Ich kaufe zehn Fotos, ausgewählt nach Stimmung und Eingebung. Weil ich an einem Gesicht hängen geblieben bin. An einem Datum, einer Handschrift auf der Rückseite. Ein Mensch, ein Schicksal, ein Es-war-einmal. Das Letzte, was geblieben ist, ein Foto im Wäschekorb vor einem Trödelladen in einer Nebenstraße, frei zum Angucken und Anfassen für jedermann, stummes Zeichen, Zwischenmeldung aus dem Jenseits.
    Sie haben mich gerührt, diese Lichtbilder, dieser Abglanz von Leben, dieses lebendige und zugleich vergangene Licht in einem Lächeln, einem Blick, einer Haarsträhne. Zwei junge Männer, beide im dunklen Ulster, beide haben einen weißen Schal lässig um den Hals gelegt, draufgängerisch der eine, ängstlich der andere. Sie erinnern mich an die halbwüchsigen Gangster der Gladow-Bande, die nach dem Krieg Staunen und Furcht in Berlin verbreiteten und mir, dem Kind, Schauer des Schreckens über den Rücken jagten. Alles Schwarzweißbilder, Farbfotos waren nicht üblich. Schwarzweiß ist eine Stilisierung besonderer Art, ein selbstverständlicher Verzicht auf Echtheit, keine Farbe, dafür das Erlebnis von Zwischentönen in Grau. Über der Individualität der Gesichter und Gestalten liegt etwasGemeinsames: das Licht einer Generation, ihre Schuld und ihre Unschuld. Die Welt in Schwarzweiß, das ist die der Eltern, in Sepia getaucht war die der Großeltern und Urgroßeltern. Man kann den Bildern immer noch was hinzudenken: Papa hatte blaue Augen, Tante Christel war rotblond, der kleine Paul hatte zum ersten Mal eine Cordhose an, die war grün.
    »Fotografieren heißt die Sterblichkeit inventarisieren«, sagt Susan Sontag. Ein Fingerdruck genüge, um dem Augenblick gleichsam eine postume Ironie zu verleihen. Anhand von Fotografien sähen wir uns auf höchst intime und qualvolle Weise mit der Realität menschlichen Alterns konfrontiert. Betrachte man eine alte Aufnahme von sich selbst oder von Menschen, die man persönlich kenne oder von viel fotografierten Prominenten, so sei die erste Reaktion: Wie viel jünger war ich, waren sie, damals! Da ist sie wieder, die Unfassbarkeit des Alters.
    Seit einiger Zeit lese ich mit einer gewissen Spannung die Todesanzeigen in der Zeitung und stelle mir die Lebensumstände der Verstorbenen vor. Ich gucke auf die Geburtsdaten und finde nicht selten Angehörige meiner Generation, das beunruhigt, frühere Geburtsdaten hingegen beruhigen mich, da hätte ich ja noch gute zwanzig Jahre zu leben. Eben las ich, dass Frau Gudrun Gumpert gestorben ist. Ich kannte sie nicht. Oder doch? In der Anzeige steht: »F. W. Gumpert – Café und Conditorei Gumpert«. Es ist der Name der Konditorei, wo meine Mutter einmal im Monat mit mir »konditern« ging, Liebesknochen, dazu der Duft von echtem Bohnenkaffee. In einer kleinen Konditorei, da saßen wir zwei und aßen für drei. Café Gumpert – Paradies zwischen Ruinen. Schöner konnte es ein Kindnicht haben, es hatte auch andere Zeiten erlebt, noch gar nicht lange her, der Krieg war gerade erst vorbei.
    Wenn man älter wird, erinnert man sich, gern oder ungern, meist jedoch gern an seine Kindheit, an seine Jugend, man denkt das Ende vom Anfang

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