Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens
noch eine große rote Schule. Aus einem Blechnapf, der aus einem Stahlhelm gemacht war, löffelten wir die Schulspeisung. Badura, Becker, Bettermann, so begann das Klassenbuch, Fräulein Oprotkowitz schlug mit dem Zeigestock auf die Fingerspitzen der Erstklässler. In der Zweiten kam Frau Rebhan, die Neulehrerin war erst zwanzig und schlug nie. Ich telefoniere noch ab und an mit ihr, sie verfolgt meinen Lebensweg, sie liest manchmal einen Artikel von mir in der Zeitung. Einmal rief sie an und sagte: Diesmal war ich gar nicht zufrieden mit dir, Sylvia! Für sie bin ich immer noch das Schulkind, für mich ist sie immer noch die Lehrerin, obwohl wir nun beide ältere Damen sind. Frau Rebhan, das kann man so sagen, ist keine ältere, sondern eine alte Dame, aber ihre Stimme ist so jung, dass ich sie vor mir sehe, wie sie an der Tafel stand in der großen roten Schule.
Ich konnte mir ein Leben ohne Krieg nicht vorstellen. Ich vervollkommnete meine Sammlung von Kerzenstummeln, die ich in einer Geheimschublade verwahrte,um für den Dritten Weltkrieg gerüstet zu sein, weil ja sicherlich wieder der Strom ausfallen würde. Krieg gehörte zum Leben wie Hunger, Kälte und die Aussicht auf eine bessere Zukunft und dass ich irgendwann Rollschuhe kriegen würde. Auf dem Hinterhof der Zweihundertelf, wo der Lebensmittelhändler Schummer auch nach Ladenschluss noch verfügbar war – Hol mal Salz bei Schummer hintenrum, Sylvie! – da ist jetzt ein Hotel. Ich hatte neulich die Idee, dort einzuchecken, um inkognito in meine Kindheit zu kriechen. In Schummers Laden befindet sich seit einiger Zeit der »Asia Tiger«, da essen Leute die Nummer 31 oder die Nummer 42. Irgendwann setze ich mich da hin und bestelle ein großes, dunkles Brot und hundert Gramm Marmelade, Schummers Schätze aus hungrigen Zeiten waren nicht nummeriert. Die Serviererin mit den schrägen Augen würde mich hilflos ansehen und einen wunderlichen Eindruck von mir gewinnen, sie wüsste ja nicht, dass ich mich in diesem Moment in einem anderen Jahrhundert aufhalte.
Der Schulhof meiner Oberschule eine Straße weiter sieht auch aus wie damals. In den großen Pausen hatte ich mit Angela lässig an einer räudigen Wand gelehnt, in schwarzen Strümpfen, was zu jener Zeit als Zeichen dekadenten Existentialismus von den Aufsicht habenden Lehrern grimmig kommentiert wurde. Der Torbogen, unter dem ich von einem Maurerlehrling den ersten Kuss bekam, steht da, als sei nichts passiert nach diesem Kuss. Ich kann mein Kindheitsmuster berühren und abtasten, ohne Aufwand. Ich gehöre nicht zu den Globalplayern, ich spielte mein Leben lang an lokalen Plätzen, in meiner Sesshaftigkeit bin ich ein Auslaufmodell. Das alte Kind, das ich bin, fühlt sich aufgehobenim Kokon der Zeit. Die Jugend ist weg, die Zeugen sind da. Als würde mein Leben unter Denkmalschutz stehen. Herr Fischer, Herr Fischer, wie tief ist das Wasser, was ist aus Rosi und Vroni geworden, was aus Elli, Angela und Marlene; Badura, Becker, Bettermann, was ist aus denen geworden? Acht ältere Damen, die morgens in den Spiegel gucken und zu sich sagen: Bist nicht mehr die Jüngste, mein Mädchen.
DIE ECHOS – Schwingung und Nachhall
Ich werde nicht allein alt, ich bin in Gesellschaft. Mein Altwerden hat Echos, ihre Schwingungen tragen mich. Das Alter ist der Nachhall der Jugend. Die Siebzehn, deren Echos ich aufgeschrieben habe, sind nahe oder ferne Freunde und Bekannte, ich kenne sie gut oder flüchtig. Ihr Echo ist der Widerhall einer Generation, die das Heulen der Sirenen in den Genen trägt und das Glück hatte, jahrzehntelang in Frieden zu leben. Auch die Echos Jüngerer sind dabei, weil Alter ohne Jugend nicht zu denken ist.
Die Gespräche fanden in Cafés, Kneipen, Wohnungen und Ateliers statt. Es war ein ganz normaler Frühling mit Flieder und Maiglöckchen. Ein Frühling, der bestimmt war vom Atomunglück in Fukushima. Ein Frühling mit Ehec, dem unbekannten Bazillus, der besonders die Alten beunruhigte. Der Sommer ist kühl gewesen und regnerisch, so viel Regen fiel nie, die Hibiskusblüten ertranken im Überfluss. Meine Enkel Philipp und Franz waren neun und zehn Jahre alt. Sie gingen auf Schulen, in denen es keine Zensuren gibt, malten Schlachtszenen und trugen gelbe Shorts mit aufgedruckten Palmen. Philipp isst kein Fleisch, Franz liebt Blutwurst. Philipp lernt Elektrobass, Franz will nicht mehr Klavier spielen. Philipp zerschmetterte sich das rechte Knie, Franz brach sich den linken Fuß. Icherzählte
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