Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens
wenig anmutig, dazu gefährlich, vor allem peinlich. So schnell wie möglich rappelte ich mich auf und lauschte dem dumpfen Rumsen nach, das ich verursacht hatte. Alles bliebstill im Hausflur. Mir tat das Knie höllisch weh, aber ich musste los, ich hatte einen Termin. Während ich sichtlich behindert über Schnee und Glatteis trippelte, dachte ich: Jetzt kannst du nie mehr einfach so laufen, so leicht und lustig, ab heute wirst du dir jeden Schritt überlegen müssen, das Knie ist kaputt für immer. Vielleicht ist es ja was Schlimmeres als das Knie, vielleicht musst du ab morgen an Krücken laufen, flüsterte die Angst. Ein Oberschenkelhalsbruch ist der Anfang vom Ende, wisperte Kassandra. Treppetanzen verboten, sprach die Vernunft.
Genau an diesem Vormittag erlebte ich das, was man Reporterglück nennt. Zur rechten Zeit am rechten Ort erblickte ich zum ersten Mal den Spiegelsaal in Clärchens Ballhaus. Neue Eigentümer inspizierten an jenem Tag ihren Besitz, und ich folgte ihnen die seit Ewigkeiten nicht betretene Treppe hinauf. Seit 1944 war das Gründerzeitjuwel verschlossen und weggeschlossen gewesen. Die atemberaubend wundersame staubbedeckte Pracht des alten Tanzsaals, die Berührung einer bis zu diesem Moment unberührten Vergangenheit wirkte prompt, der Schmerz war weg, ein Wunder war geschehen. Wunder soll man nicht strapazieren. Ich halte mich jetzt am Geländer fest beim Treppetanzen.
Betrachte ich mich im Spiegel, fallen mir die Zerrspiegel in den Raritätenkabinetten auf Rummelplätzen ein, da sah man entweder aus wie ein Vollmond oder dünn wie eine Mondsichel, letzteres trifft, was mein Gesicht anlangt, neuerdings auf mich zu, auch ohne Zerrspiegel. Ich hatte mal eine Zahnwurzelbehandlung, in deren Folge meine linke Wange anschwoll, sie sah prall und glatt aus, mein Gesicht linksseitig wirktejung, ich war begeistert. Das war der erste Blick, auf den zweiten machte die zufällige Verjüngung mein Gesicht erstaunlich banal; ich bekam eine Ahnung davon, was ein Facelifting mit mir anstellen könnte.
Fotos, auf denen ich mir nicht gefalle, vernichte ich. Ich scheue neuerdings nicht einmal die Photoshopmethode – wegschummeln, was stört. Das ist mein gutes Recht, zumal ich aus Ängstlichkeit und Überzeugung keinerlei Eingriffe an mir plane, nicht die klitzekleinste Botox-Spritze. Ich sitze vor dem Computer, klicke ein aktuelles Porträt von mir an, drücke auf ein virtuelles Pinselchen und fahre damit kurz über meine rechte Nasolabialfalte. Ich klicke auf »Fertig«, und fertig ist der Lack, wie meine Großmutter zu sagen pflegte. Die Falte ist weg, der Lackschaden behoben. Ich sehe auf mein Abbild und bin zufrieden. Was für eine Sensation wäre so ein Pinsel, wäre er nicht virtuell, sondern wirklich, was für ein Unglück aber auch!
Die vorübergehende Macht über mein Gesicht erzeugt eine Art Schöpfergefühl, ich pinsele nicht alle Falten weg, man darf nicht übertreiben. Dies Spiel ist Verrat, ich weiß. Ich, die ich Authentizität und dokumentarische Treue über alles schätze, verfälsche mein echtes Gesicht. Doch was heißt hier echt, wenn der Fotograf keinen Reflektor dabei hatte, weil er der Meinung ist, das Gesicht eines älteren Menschen habe eine Landschaft zu sein, »eine Landschaft mit Hügeln und Tälern«, die man »herausarbeiten« müsse. Oder wenn er einfach nicht in der Lage ist, gutes Licht herzustellen.
Licht kann Falten machen oder faltenlos, jung machen oder alt, aggressiv oder sanft. Licht leuchtet das Leben aus, könnte man Licht essen, wäre ich ein Glühwürmchen.Finde ich mich faltig, weiß ich den Grund: Früher war das Licht besser! Meine Freundin Gloria schminkt sich, seit sie dreißig ist, mit einer roten Lampe neben dem Spiegel, das wäre mir zu früh gewesen. Reise ich wohin, und das Licht ist grau im Hotelzimmer, kaufe ich für die Zeit meines Aufenthalts eine Lampe, die bei meiner Abreise dort verbleibt. Restaurants und Geschäfte mit Sparlampenbetrieb meide ich. Das Leben ist zu kurz, um ungünstig beleuchtet zu sein. Bin ich wo eingeladen, kann es vorkommen, dass ich in fremden Wohnungen Lichtregie führe. Ich versuche, hier etwas zu dimmen, dort etwas heller zu machen oder eine gelbe Serviette vor eine allzu grelle Lampe zu klemmen. Ich habe einen Lichttick, das ist klar. Schuld ist meine Mutter. Sie hat geraucht in dem Zimmer, in dem ich als kleines Kind schlief, ihre glühende Zigarette in der Dunkelheit war das Seelenfeuer, an dem ich mich wärmte. Das
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