Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens
Fleecejacke breitet beim Herstellen der Seifenblasen die Arme aus wie ein Schamane, der die Unschuld beschwört. Ich kenne ihn flüchtig. Es könnte sein, dass er keine Arbeit hat, keine Liebe und wenig Gelegenheit zum Glück. Wenn er Seifenblasen macht, kommt er zu den Kindern und zu sich selbst. Er schafftBleibendes, denn die Fünfjährigen werden die Seifenblasen ihr Leben lang nicht vergessen, diese Regenbogenbälle, die traumhaft schön sind, auch wenn sie zerplatzen. Dass es schöne Dinge abseits des Nutzens gibt, wird zu ihrem Kindheitsmuster gehören.
Ich kann mich in meine Spur begeben, wann immer ich will, mein Kindheitsmuster ist leicht auffindbar. Ich bin immer in Berlin geblieben, der Stadt, wo ich geboren wurde, immer im selben Bezirk, mein Radius ist klein. Wenn auch nicht so klein wie der von der Frau, über die ich gerade in der Zeitung las. Frau Mußwik, die eben hundert Jahre alt geworden ist, lebt seit neunundneunzig Jahren in derselben Wohnung, Neukölln, Hasenheide, dreieinhalb Zimmer, dritter Stock. In der Wohnung wohnten schon ihre Eltern, der Vater war Barmixer in »Mampes gute Stube« am Kurfürstendamm, wo Joseph Roth den Radetzkymarsch geschrieben haben soll. Die alte Dame, Annemarie heißt sie, wie Nesthäkchen, nomen est omen, Annemarie, die gern weiße Strickjacken trägt, lebt in innigem Einverständnis mit ihrer Vergangenheit. Sie schläft in dem Zimmer, wo sie als Dreijährige die Schäfchen an der Decke zählte, sie kocht in der Küche, in der sie ihrer Mutter beim Kuchenbacken zuschaute, sie sieht aus dem Fenster das, was sie immer sah, beinahe. Frau Mußwik, und das mag verwundern, besitzt einen Laptop, erhält Mails und beantwortet sie. Die Frau ist in ihrer Spur geblieben. Vielleicht ist sie deshalb so alt geworden, Treue wird belohnt. Zuweilen.
Jetzt, wo ich älter bin, taste ich meine Spuren häufiger ab, Erinnerung ist die emotionale Reserve des Alters, sie hält zusammen, was zu zerfallen droht. »Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit«, gepinnt aneinen Leierkasten. Im Hausflur meiner Kindheit liegen noch immer dieselben, mosaikförmig angeordneten schwarzweißen Fliesen. Der Mauervorsprung, auf den mein erster Gummiball beim Kante-Spiel prallte, ist derselbe wie damals. Häuser, Höfe, Plätze, Keller. Nachkrieg, Neuanfang. Auf dem Hof, wo ich mit Rosi und Vroni Lackbilder tauschte, blühen die Hortensien noch immer. Der Weg zum zweiten Hinterhof, der lauschiger war als der erste, führt durch den Keller, so war es, so ist es. Der Platz, wo ich das einzige Mal in meinem Leben Rollschuh gelaufen bin, ist immer noch ein weitläufiger Ort. Ich hatte keine eigenen Rollschuhe, Marlene hatte mir einen geliehen. Eine unvergessene Stunde an einem Tag voller Leichtigkeit. Mit einem einzigen Rollschuh. Das Unperfekte kann spannend sein, die Vorfreude auf das Vollendete kann glücklich machen, die Erinnerung an die Anfänge spendiert der Gegenwart poetische Momente. Im Sommer setze ich mich öfter in ein Straßencafé, das sich in einem unsanierten Haus befindet. Die Stühle stehen über Kellergittern, ich kann die Kellerluft riechen, die aus dem Souterrain nach oben steigt und angenehme Kühlung bringt. Sie weht mein Kleid hoch wie damals meinen Glockenrock, der aus einer alten Gardine genäht worden war. Ein Windstoß aus der Zeit der Hausflure.
Die Fabrikhöfe sind immer noch schattig und kühl, Molkereien allerdings und Kühe sind da nicht mehr. Das Treppenhaus, das ich, drei Stufen auf einmal, hinaufstürmte, um pünktlich oben zum Mittagessen zu sein, ist unrenoviert geblieben. Der Balkon im zweiten Stock hat dieselbe gelbe Tünche wie vor fünfzig Jahren. Ich könnte hoch gehen, Henning rufen, und der Junge aus dem Quergebäude würde am Küchenfenstererscheinen. In dem Haus, wo Dr. Glück vor einem halben Jahrhundert meine Mittelohrentzündung behandelte, haben sich ein Internist niedergelassen und ein Homöopath. Im zweiten Stock wohnte Elli, die ich mochte, weil sie hübsch und schwerhörig war, sie hatte alle Trotzkopf-Bände. An einem Nachmittag auf ihrem Balkon lieh sie mir »Trotzkopf als Großmutter«.
Ich war nicht immer eine ältere Dame, auch wenn man von allen älteren Damen annimmt, dass sie schon immer ältere Damen waren. Wenn ich über das Pflaster meiner Vergangenheit flaniere, feiere ich mein Leben, ich halte das für angebracht, ich hab ja nur eins. Die große rote Schule, die ich das erste Mal mit einer Schultüte betreten hatte, ist immer
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