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Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens

Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens

Titel: Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Voigt
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es seit dreiundvierzig Jahren. Nicht nur Zuneigung hat sie verbunden, auch der gemeinsame Kampf für eine aussichtslose Sache, bis heute arbeiten sie dafür, dass der Kommunismus kommt, unbeirrbar. Silke, seit je schmal und grazil, ist dünn geworden in diesem Kampf, dünn wie die wirklichkeitsgeschundene Theorie, auf die sie fixiert ist mit jeder Faser ihres Wesens. Thomas, der Gefährte, wurde, könnte man annehmen, aus den selben Gründen, aus denen sie mager geworden war, schwer und unbeweglich. Seinen Überzeugungen treu zu bleiben, birgt, so scheint es, körperliche Risiken.
    Der Anarchist, wie er von seinen Ostberliner Freunden genannt wird, liebt Berlin, nicht allein wegen Brecht, auch wegen der breiten Straßen und einem Nachtlokal, das Trocadero heißt. In Berlin möchte der Münchner begraben sein, auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in der Chausseestraße, die Zusage hat er schon. Wenn er zu Treffen mit seinen Genossen in Rostock, Amsterdam oder Stettin unterwegs ist, macht er in Berlin Station. In der Invalidenstraße gibt es ein Seniorenstift, untergebracht in jenem imposanten Gebäude, das früher einmal das Hotel Newa war. Es hat ihm gefallen, so mitten in der Stadt, Altersheime imGrünen sind ihm ein Greuel. Er ist reingegangen und hat sich in einer Anwandlung die Aufnahmepapiere geben lassen. So was könnte ich mir gar nicht leisten, sagt er mit seiner sanften Stimme, dreitausend Euro im Monat, das ginge nicht. Was für Zeiten, in denen Anarchisten Einlass in Altersheime begehren!
    Du bist nun alt. Ich bin schon lange alt, sagt er, mit zweiundfünfzig habe ich beschlossen, dass ich alt bin. Da hatte er sich verliebt. Sie war vierzehn Jahre jünger als er, er war vierzehn Kilo zu schwer. Das wird nichts, dachte er, schon dabei, sich abzufinden. Dann wurde es doch was, er fühlte sich zehn Monate lang jung und leicht. Als es vorbei war, beschloss er, nun wirklich alt zu sein und seine körperlichen Beschwernisse zu Altersschwächen zu erklären. Von da an ruhte er in sich wie in einem Bett, in dem sich die Federn verklumpt haben.
    Die Liebe aber hat er nicht vergessen: Ich kaufe sie mir, das musst du nicht schreiben, ach was, das kannst du ruhig schreiben. Er traf Melanie, die eigentlich Mascha heißt und aus Weißrussland kommt, sie saßen danach auf dem Bordellbett und tranken Krimsekt. Sie erzählte ihm, dass sie sich im Internet »ein Hundchen« gekauft hatte, einen kleinen Malteser. Er schreibt ihr Mails, sie antwortet ihm und unterschreibt mit »Kusschen, Deine Melanie«. Für ihn ist sie keine Nutte, sondern ein russisches Mädchen mit einem süßen Gesichtchen, womöglich die Enkelin eines Rotarmisten, wie er in einer Geschichte über sie schrieb. Er könnte für sie der Teddy mit den Knopfaugen sein, mit dem sie schon als Kind gespielt hat; keine Identität ist eindimensional, wir alle sind Teddybär und Revolutionär zugleich. Als Mascha von einer Reise zurückkehrt,mailt er ihr, dass er gern der Erste wäre, dem sie ihren schönen Busen zeigt, wenn sie wieder da ist.
    Kinder hat der Anarchist nicht. Er sorgte auf andere Weise für seine Unsterblichkeit. Von Brechts Tochter Hanne hat er geerbt und mit dem Geld die »Stiftung für die unliterarische Verwendung der Literatur« gegründet: Nun muss sich die Nachwelt mit dem, was ich gemacht habe, auseinandersetzen. Er sieht sich als Gewinner. Weil er Achtundsechzig erlebt hat: Du spürst, was in dir steckt, du merkst, was du kannst – Leute begeistern und führen, Reden halten ohne Zettel in der Hand. Achtundsechzig hat mir Hoffnung gegeben für mein ganzes Leben.
    Manchmal, sagt der lebenslange Revolutionär, sehe er junge Männer und denke, wie schön es wäre, noch einmal fünfundzwanzig zu sein. Und dann schlägt wie ein Blitz der Gedanke ein: Wenn ich jünger wäre, hätte ich Achtundsechzig nicht erlebt, dieses große Glück nicht erfahren. Es wäre trostlos, im Alter ohne eine dritte Sache zu sein, ohne Ideale. Aber die Zeit, in der ich noch etwas erleben kann, wird knapper, die Sehnsucht hat eine Endstation.

Tinas Lächeln
    Wenn Tina auftaucht, guckt man hin. Sie setzt sich, schlägt die Beine übereinander und wirkt unabhängig. Groß ist sie, blond, struppig, riesige graue Augen, ein Lächeln aus Distanz und Interesse gleichermaßen. Sie sieht alt aus und jung. Ihre Wohnung ist von jener lässigen Gemütlichkeit, die die Freiheit des Geistes und des Gemüts signalisiert. Wir kramen gemeinsam dasHochzeitsfoto aus dem großen

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