Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens
Karton, der oben auf dem Schrank steht. Das Paar sitzt nebeneinander am weiß gedeckten Tisch, der Bräutigam trägt einen dunklen Anzug, die Braut ein schlichtes Kleid mit einer weißen Nelke am Ausschnitt, zwischen ihnen ein voller Aschenbecher, 1960 war das. Tina hat ihn geliebt, diesen Mann, sie sind heute noch befreundet. Sie war ein Mädchen mit langen, seidigen Haaren, das den Mann mit zweifelndem Lächeln von der Seite ansah. So wie auf dem Hochzeitsfoto lächelt sie auch jetzt, auf dem Sofa in ihrer Küche. Das Lächeln ist geblieben, ein halbes Jahrhundert lang. Tina war achtzehn gewesen und hatte wegen einer Wohnung geheiratet, die nur verheiratet zu kriegen war, eineinhalb Zimmer, Küche und Bad in Gemeinschaftsnutzung. Zettel holen beim Standesamt, Name ändern, fertig.
Das junge, weiche Wesen auf dem Foto – findest du dich da schön? Ich erkenne mich wieder, auch von anderen werde ich wiedererkannt, manchmal noch nach vierzig Jahren. Schön fand sie sich nie, attraktiv vielleicht, sie finde sich auch heute noch attraktiv: Ich habe keine vermanschte Figur, mir fallen nicht die Haare aus, ich muss nicht krumm gehen, ich habe noch weibliche Formen, das ist doch was. Ihre Selbsteinschätzung ist nicht aus der Luft gegriffen. Sie trägt einen kurzen Rock, ihre Beine in den schwarzen Strümpfen sehen wohlgeformt aus.
Seit fünfundzwanzig Jahren, nach drei langen Beziehungen, lebt sie allein. Sie sei inzwischen ein Beziehungsvagabund, sagt sie, und dass sie nur mit Mühe umgelernt habe. Ihre Maßstäbe seien heute differenzierter als mit siebzehn oder dreißig oder vierzig. Viele Pärchenfreundschaften von früher erscheinen ihrheute langweilig, weil beim langen, ruhigen Zusammenleben die Lebendigkeit abhanden gekommen sei. Die meisten ihrer Freunde sind so alt wie ihre Kinder, in den Vierzigern: Die sind beweglicher, die kann ich auch mal ohne Voranmeldung besuchen. Mit Jüngeren kann sie ihre Biographien mitleben, da entwickelt sich noch was, sagt sie, da ist noch nichts abgeschlossen. Jüngere haben noch was vor, bei Älteren hat sich vieles erschöpft. Du bist auch alt. Ja, sie habe es neulich drastisch zu spüren bekommen. Eine Freundin plante einen Ausflug. Mit von der Partie war ein Mann um die Fünfzig, klein, nicht sehr ansehnlich, ohne Fortune bei Frauen. Dem sagte die Freundin, in ihrer Anwesenheit: Tina kommt auch mit. Darauf rief der, nicht mehr nüchtern, empört und deutlich coram publico: Was, mit so einer alten Frau willst du mich verkuppeln?
Tina liebt jungenhaften Charme, der käme bei Alten leider selten vor: Bei jungen Männern kommst du aber zu kurz, du machst dich kleiner, als du bist, nur, weil der jünger ist. Jüngere Männer kosten Kraft, da gerätst du in eine Falle. Man kriegt es nicht mehr zusammen, die erotische Anziehung und das menschliche Verständnis. Männer um die Fünfzig prahlen gern mit ihren Erfolgen, erzählen viel und halten es für selbstverständlich, dass du dich mit der Zuhörerrolle begnügst. Falls du mal was erzählst, hören sie nicht zu. Einmal hat sie zu jemandem dieser Art gesagt: Kann es sein, dass du vergisst, was ich dir erzähle? Aber nein, sagte der. Du weißt zum Beispiel nicht mehr, dass mein Vater Halbchinese war. Doch, doch, meinte er, weiß ich, dein Vater war Halbchinese. Das eben war der Irrtum.
Dass Altsein die Befreiung von der Sehnsucht bedeutenkönnte, kann Tina nicht nachempfinden, die Sehnsucht beträfe doch nicht nur das eigene Leben. Ich habe die Sehnsucht, dass die Menschheit sich von ihrer Dummheit befreit. Wenn ich diesen Rückfall in mittelalterlichen Irrationalismus sehe, der sich gerade vor unser aller Augen abspielt, diese Verdunklung des gesellschaftlichen und individuellen Bewusstseins, könnte ich die Hoffnung verlieren, ich verliere sie aber nicht und die Sehnsucht auch nicht.
Tina erhebt sich von dem kleinen Sofa und kehrt mit einem anderen Jugendfoto zurück. Darauf ist sie nackt vor einem Kleiderschrank zu sehen; es ist derselbe Schrank, der immer noch in ihrer Wohnung steht. Ein Rückenakt, jung und anrührend. Ideale Kurven von Taille zu Hüfte, das lange Haar fällt über die Schulter wie ein Seidentuch. Selbstverständliche Schönheit, unvergänglich, so scheint es. Tina sieht auf das Foto mit ihrem Tina-Lächeln, mit einer Ironie, die eher Schutz ist als Spott.
Weißhaariger Verrat
Das Alter, nun ja, unbestreitbar, ich bin vierundsiebzig – der Uhu lacht sein glucksendes verlegenes Lachen, das Thema ist ihm
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