Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens
sich die alte Dame herabließe, an Bastelnachmittagen teilzunehmen oder an einem Tanzabend im Gruppenraum, wohl kaum – sie macht sich nicht gemein, lieber bleibt sie allein.
Seniorendiskos gehören zum Leben des frei lebenden Homo senex. Wer hierher kommt, hat die halbe Strecke auf der Flucht vor der Einsamkeit schon hinter sich. Adios, Amigos, sie war schön, die Zeit. Mancher Tänzer hält seine Dame in respektvoller Distanz, wie ein in Rüschen verpacktes Präsent, das lange in der Schublade gelegen hat. Bei anderen finden Arme und Hände erst in Höhe der Oberschenkel zueinander, so tanzten in den Fünfziger Jahren die Kinder desRock ’n’ Roll lässig die langsamen Nummern, Only you. Auf der Tanzfläche herrscht Frauenüberschuss, Männerleben sind kürzer, die seltenen Exemplare heiß begehrt. Auf drei Frauen kommt ein Mann, ein Mann wie Erwin, der den Damen am Tisch Würstchen spendiert und Stonsdorfer. Vor zwei Jahren starb seine Frau, die eifersüchtig und streng war, und Erwin wusste nicht, ob er trauern oder tanzen sollte. Ist man gut, dass die abgegangen is, meint Edeltraud, die ihm damals über die schlimme Zeit geholfen hat, jetzt kannste leben, wie du willst, biste nicht angebunden. Eine haste verloren, viele haste gefunden, ergänzt die große Gerda mit den großen Ohrclips. Sie kann sich über sich nur wundern: Da hab ich soviel erlebt und durchgemacht, und jetzt sitz ich hier und hab noch Lust zum Tanzen, komm, Erwin, is ne Schmusenummer. Tanzen und an früher denken. Die Schlager der Jugend hören und die Jugend wieder spüren, Alter schützt vor Jugend nicht. Ich liebe die Sonne, den Mond und die Sterne, doch am meisten liebe ich dich, schreit die große Gerda in Erwins Ohr. Manche Alte sterben beim Tanzen, das könnte man einen schönen Tod nennen. Wenngleich in solchen Fällen der schöne Nachmittag dahin ist.
Der Homo senex übt sich in Selbstironie, so stellt er Distanz zu sich selber her. Er versucht, die Tragikomödie seines Alterns als fremdes Schauspiel zu betrachten: Der Alte da, das bin nicht ich, das ist der Alte da. Bei einem traditionellen Mai-Treffen in einem Haus am See macht der dezent gebräunte Gastgeber im weißen Leinenjackett einem Neuankömmling die Mitteilung: Heute ist der erste mit Krücke da! Ein Ausruf der Verwunderung über etwas lang Erwartetes. Später unternimmt er mit einigen Gästen eine Motorbootfahrt,in jugendlichem Überschwang rast er mit ihnen über das Wasser. Der mit der Krücke ist auch dabei. Eine Frau, die mit ihrem Mann im Boot sitzt, sagt: Mir ist ja nicht so wohl hier mitten auf dem See, und sie zeigt auf ihren Mann: Helmut ist nämlich Nichtschwimmer. Ich bin auch Nichtschwimmer, sagt der mit der Krücke. Na ja, aber Sie kenne ich nicht so lange, sagt die Frau, ihr Gatte lächelt zufrieden.
Der Homo senex hat nichts zu verlieren. Man lebt nur einmal, von weitem winkt schon der Tod, da wäre es doch schade, die Facetten seiner Persönlichkeit zu minimieren. Unter dem Motto »Ist doch eh egal jetzt« packt er aus. Heimliche Liebschaften, illegitime Kinder, nicht ausgelebte Homosexualität. Geständnisse von Seitensprüngen en famille, der Cousin mit der Cousine, der Schwager mit der Schwägerin, der Schwiegervater mit der Schwiegertochter. Beichten vom One night stand mit dem Abteilungsleiter, der Affäre mit der Praktikantin, dem jahrelangen Verhältnis mit der Nachbarin. Ist doch egal jetzt, war doch schön.
Die Gefühlslage des Homo senex ist ambivalent. Er sucht einerseits Bestätigung und Jugend, andererseits Ruhe und Beschaulichkeit. Dieser Widerspruch kann zu unerhörten Entscheidungen führen. Ein promovierter Soziologe Ende sechzig hatte eine Freundin namens Emmi. Hübsch, intelligent, witzig, liebevoll, das auch. Emmi war dreißig Jahre jünger als er. Der Alte konnte es nicht fassen, dass sie ihn ausgesucht, dass sie ihn gewollt hatte. Sie kümmerte sich um ihn, kaufte ihm Hemden mit hohem Kragen und einen kurzen taillierten Mantel. Sie gingen zusammen tanzen, sahen sich Inszenierungen von Frank Castorf an und Filme von Quentin Tarantino. Er wirkte wie beschwipst von ihrerJugend. Seine Freunde staunten und bewunderten ihn für sein Schmuckstück, er nannte sie Schmucki. Er nennt sie Schmucki, raunten nachsichtig lächelnd die alten Freunde, ein bisschen Neid war auch dabei. Im Laufe der folgenden fünf Jahre normalisierte sich die Beziehung. Der Soziologe verlor peu à peu die Lust auf Castorf-Inszenierungen und Tarantino-Filme,
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