Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens
Großvater hätte sein können.
Ich denke manchmal, dass Max mich auf das Unerhörte unserer Verbindung hätte hinweisen müssen, sagt Sibylle, auf die Asynchronität unseres künftigen Lebens. Er hätte wissen müssen, dass er zu alt für mich ist und was das bedeuten könnte. Diese Verantwortung gegenüber einer Achtzehnjährigen hätte er gehabt, denke ich jetzt, die Pflicht, ihr vor Augen zu führen, dass der immense Altersunterschied irgendwann einem Schicksalsschlag gleichkommen könnte.
Sie war seine junge Frau, die ihn bewunderte und liebte, er aber verfolgte sie mit höllischer Eifersucht, sie gab ihren Freundeskreis auf, die Eifersucht wurde zerstörerisch. Jedoch, sie wurde erwachsen, und er wurde älter, noch älter. Das Verhältnis begann sich umzukehren,die Überlegenheit schlug sich auf ihre Seite. Sie hatte einen Beruf, sie war erfolgreich, selbstbewusst, sie begann, neben ihm ein eigenes, junges Leben zu führen. Ein Kampf, in dem sie beide Verlierer waren. Doch sie trösteten einander. Er sie, wenn sie unglücklich verliebt war, sie ihn, wenn er Angst hatte, wegen eines Jüngeren von ihr verlassen zu werden.
Nach und nach begreift er, wie alt er ist. Es entlastet sie, dass er das Alter jetzt nicht mehr verdrängt, obwohl er über das Ende, über seine Beerdigung oder über Testamentarisches nicht sprechen möchte, er will nicht sterben. Ihr gesamtes bisheriges Erwachsenenleben hat Sibylle mit ihm verbracht, das Fundament der Erinnerung macht das Zusammenleben heute möglich. Doch sie sieht den Abbau, die Reduktion von Woche zu Woche, die Verluste; was sie ihm vormittags sagt, hat er nachmittags vergessen. Sie sieht den einsamen, alten Menschen, störrisch, trotzig, und traurig. Sie wird ihn nicht verlassen, aber sie hat Angst davor: Ich sehne mich manchmal nach dem Mann, in den ich mich verliebt habe, nach seiner Phantasie, nach seinem scharfen Geist. Mit ihm an der Seite bin ich geworden, was ich bin. Er rettete mich vor Unbehaustheit, der Glamour, der von ihm ausging, war Fürsorge – geistige und seelische. Unsere langen Spaziergänge durch den Wald vor unserer Tür, zwischen Kiefern und Eichen, die Gespräche über das, was Leben ist und was Literatur sein kann.
Für die schönen Jahre zahlen beide einen hohen Preis. Er spürt, dass seine junge Frau sich mehr und mehr von ihm entfernt, sie fühlt das Unabwendbare näher kommen: Unser Sohn wird in drei Jahren aus dem Haus gehen, Max wird sterben, ich werde allein sein.Doch die zehn Jahre, diese wunderbaren zehn Jahre mit meinem Mann, möchte ich nicht missen.
Die Bar schließt, Sibylle geht in den Regen, immer noch schön, immer noch jung. Auf der nassen Straße ertönen Pfiffe von einsamen Männern, die sich nach der Frau ihrer Träume sehnen.
Endstation Sehnsucht
Der Mann hat ein Gesicht wie ein Junge, einen Körper wie ein Schwergewichtsboxer im Ruhestand und einen Gang wie Charlie Chaplin, wenn man ihn in doppelter Zeitlupe laufen ließe. Er vermeidet das Treppensteigen, weil ihm die Luft fehlt. Er werde jedoch, so vermeldet er, niemals das Rauchen aufgeben. Seine Mutter sei neunzig geworden und gestorben, weil die Krankenschwester ihr die Zigaretten weggenommen hat. Ich wiege zuviel und bewege mich wie ein Nilpferd, sagt Thomas. Wenn ich aber abnehmen würde, wäre ich faltig, alles soll bleiben wie es ist. Weil er als Kind Tuberkulose hatte, habe er immer gut gegessen, das sei so geblieben, auch als die Tuberkulose weg war. Er sei in seiner Jugend alles andere gewesen als ein Fußballspieler, nämlich extrem unsportlich, also musste er sich in der Schule auf anderen Gebieten hervortun. In Deutsch bekam er nur Einsen, was in ihm die Idee aufkommen ließ, ein berühmter Dichter werden zu wollen, ein Dichter mit marxistischen Ideen, ein Dichter wie Bertolt Brecht. Er studierte Theaterwissenschaft und Soziologie. Es war die Zeit, in der es hieß: Lass deine Dichterflausen, arbeite politisch! Thomas wurde Leiter des Sozialistischen Studentenbundes; was RudiDutschke für Berlin war, war er für München. Das Jahr 1968 wurde sein Schicksalsjahr. Alle Begabung, alle Zeit, alle Kraft gingen an Achtundsechzig, alles Künstlerische in ihm verwandelte er in politische Aktion.
Er traute sich nicht, Mädchen anzusprechen, die Schüchternheit habe sich bis heute nicht gelegt, sagt er: Mein größter Traum war, dass eine kommt und sagt: Wir gehen jetzt zu mir! So geschah es, 1968, da war er fünfundzwanzig. Sie wurde seine Lebensgefährtin und ist
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