Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens
Wenn ich irgendwohin komme, und es empfängt mich durchgehende Weißhaarigkeit, empfinde ich das als Verrat. Der Tod? Früher kannte ich ihn nicht, und er kannte mich nicht, jetzt weiß ich, dass er mich kennt. Ich versuche, ihm auszuweichen, ich bekämpfe ihn mit Obst und Gemüse, Äpfel sind meine Kanonenkugeln gegen den Tod.
Vor sechs Jahren war er in eine viel jüngere Frau verliebt. Er habe sich das Glück selbst bemessen, er habe keine Gründergefühle mehr, es muss nichts mehr halten für die Ewigkeit: Früher war die Liebe ein loderndes Feuer, heute ist sie eine mit Asche bedeckte Glut. Das Alter hat ihn nicht von der Sehnsucht befreit, er wartet darauf, dass etwas geschieht. Er wartet auf die schöne junge Frau, die ihn erwählt und aus der Einsamkeit erlöst. Die Apathien, sagt der Uhu, sind das Merkwürdigste am Alter. Dass man nicht mehr so viel möchte, wo man doch früher alles wollte.
Aus dem Leben einer älteren Dame – Herzensangelegenheiten
Es ist der andere in mir, der alt geworden ist, das heißt jener, der ich für die anderen bin; und dieser andere bin ich.
Simone de Beauvoir
Ich vereine in mir alle meine Lebensalter. Ich bin sechs, die Lehrerin glaubt nicht, dass ich lesen kann, sie sagt, ich hätte alles auswendig gelernt. Ich bin acht. Mein Vater kehrt aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück, meine Mutter holt ihn nicht vom Bahnhof ab, sie hat jetzt Onkel Günther. Ich bin vierzehn, ich werde schnell noch getauft, damit ich eingesegnet werden kann. In meinem Einsegnungskleid sehe ich aus, als hätte ich Brüste, ich habe aber keine. Ich bin sechzehn, in der Mathematikstunde erstelle ich eine Liste mit den Namen der Jungs, die ich geküsst habe, meistens unter dem Torbogen in meiner Straße. Ich verliebe mich erst in Pit Pietsch, dann in Peter Fagott, schließlich in Konrad Ludens. Ich bin fünfundzwanzig, begeistert von Majakowski, Karl Marx und von der Schweizer Grotesk, einer Schrift, die sich dem gesellschaftlichen Fortschritt verschrieben hat, ich meine, an einem geistigen Aufbruch teilzunehmen. Ich bin achtundzwanzig, mein erstes Kind wird geboren, ein Mädchen, unser kleiner Beatle, sagt die Hebamme, Lady Madonna singen die Beatles. Ich bin fünfunddreißig, ewig schon verheiratet, treu sind wir uns nicht und doch. Julie, unser zweites Kind, wird in einer programmierten Geburt binnen fünfundvierzig Minuten auf die Welt geworfen wie ein Betrunkener aus der Eckkneipe, dem Säuglingstehen die Haare zu Berge, unser kleiner Punker, sagt die Hebamme. Ich bin achtundvierzig, die eine Welt ist zusammengebrochen, die andere steht offen. Ich nehme mein Älterwerden nicht wahr, die Macht der Geschichte verdrängt das Unausweichliche des individuellen Lebenslaufs, so bleibe ich jung. Wende und Wechsel, Wendejahre – Wechseljahre, schicksalhafte Verkettung. Ein Vorzug großer Zeiten ist, dass man sich selbst groß erlebt. Was sind Hitzewallungen gegen den Fall der Mauer, was ist das Ende der Menstruation gegen einen Neuanfang in Deutschland, was der Beginn des Alters gegen das Ende einer Epoche. Die Veränderung der Verhältnisse wirkt als Jungbrunnen, ich muss mich durchschlagen, ich muss kämpfen. Ich werde neu, nicht alt. Ich bin sechsundsechzig, ich bin additiv, ich stelle eine Privatsammlung meines Lebens dar, eine Kollektion von Erfahrungen und Gefühlen. Ich führe ein Doppelleben. Gestern war ich jung, heute bin ich alt.
Seit vierzig Jahren liegt es in meinem Schrank, das Pepitakleid. Größe sechsunddreißig, mit korrekten Abnähern und Spaghettiträgern und so eng, dass ich Trippelschritte darin machen musste, aber kurz genug, dass das Trippeln nicht anstrengend wurde. Noch heute laufe ich mit kleinen Schritten, weil mir das so beigebracht wurde. Ich habe beschlossen, mir die Mädchenschrittchen abzugewöhnen, es könnte ängstlich aussehen in meinem Alter. Dagegen nehme ich öfter eine Position ein, die nicht zu einer älteren Frau passt. Ich sitze männlich, mit aufgelegtem Unterschenkel; das werde ich mir nicht abgewöhnen, ich trage ohnehin meistens Hosen.
Das Pepitakleid war maßgeschneidert, zwei Anprobensind Pflicht gewesen, den Saum hatte die Schneiderin mit einer Kreidepumpe markiert. Dreimal bin ich vergeblich bei ihr gewesen, Frau Krüger war nicht fertig und hatte kein Telefon, um mir abzusagen. Enttäuscht sah ich der Schildkröte beim Fressen von Stoffresten zu und Frau Krügers stummer alter Mutter beim Löcher-in-die-Luft-Starren. Was für ein Tag, als das
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