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Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens

Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens

Titel: Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Voigt
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Kleid schließlich fertig war. Als Fetisch habe ich es aufgehoben, es erzählt mir aus meinem Leben, wenn ich seinen kühlen, festen Stoff alle Jahre mal in die Finger bekomme, während ich den Schrank aufräume. Der Stoff riecht nach Jugend, nach Vorfreude, nach einer Zeit, in der man sich weniger Kleider leisten konnte. Als Kleidungsstücke noch eine Patina hatten, die durch Erlebnisse entstanden war: Erinnerst du dich, ich hatte das rote Kleid mit dem weißen Kragen an, als wir uns kennenlernten. An meinem dreißigsten Geburtstag hast du mir Rotwein über das neue Hellblaue gekippt, das mit dem Ausschnitt, wir haben Salz über die Flecke gestreut. An einem Abend in Warschau waren wir zum ersten Mal in einem jüdischen Restaurant und haben Gefillte Fisch gegessen, ich hatte das Pepitakleid an; am nächsten Tag haben wir eine Kirche besichtigt, und eine alte Frau schimpfte, dass ich mit so einem Kleid ein Gotteshaus betrete; kurwa, hatte sie gezischt, kurwa, das polnische Wort für Hure. Da hast du mir den Arm um die Schulter gelegt, so dass das Dekolleté bedeckt war, und wir haben heimlich gelacht im Gotteshaus.
    Wenn ich mir was Neues kaufe, wähle ich öfter etwas aus, das eher für meine Töchter geeignet ist, ich gebe solche Sachen nach einer kurzen Bedenkzeit an sie weiter. Einmal gefiel mir ein schwingender schwarzerRock mit Tüllsaum. Die Verkäuferin bedeutete mir, dass er »zu jugendlich« für mich sei; weiß ich, sagte ich und nahm ihn doch. Zu Hause probierte ich den Rock lange an, fand ihn wunderschön und schenkte ihn eine Woche später Sophie. Manchmal kaufe ich auch Kleidungsstücke, die denen gleichen, die mir als Kind an meiner Mutter gefielen, bunt gestreifte Blusen mit mädchenhaft kurzen Ärmeln, »merzerisierte Baumwolle«, wie sie mit Lust am Fachausdruck betonte. Merzerisierte Baumwolle! – habe ich nicht vergessen.
    Das sich ständig reproduzierende Bild der Jugend ist berauschend wie ein Frühlingstag im Februar. Die Sehnsucht nach sich selber wird gestillt. Ein Nachmittag auf dem Balkon wird heiterer, wenn mir einfällt, wie man mich an solch lauen Sommertagen Punkt fünfzehn Uhr – da wurden die Geschäfte nach der Mittagspause wieder geöffnet – zum Bäcker geschickt hatte für zwei Stück gedeckten Apfelkuchen mit Sahne. Wie ich, das Päckchen vor mir wie eine Trophäe, nach oben gerannt war, in Aussicht des bevorstehenden Genusses. Noch heute muss ich zum gedeckten Apfelkuchen Sahne haben. Es ist, als würde ich Besuch von mir selber kriegen: Ich, das Kind, stehe neben mir, der älteren Frau, wir essen beide Apfelkuchen.
    Alt sein hat Vorteile. Man muss morgens nicht mehr aus dem Bett springen, um pünktlich bei der Arbeit zu sein, Aufwachen ist ein Programmpunkt des Tages, das ist Luxus, aufwachen und Sonnenflecke gucken. Mit welcher Andacht, schrieb Jacob Grimm in seiner Rede über das Alter, mit welcher Andacht schaut der Mensch im Alter empor zu den leuchtenden Sternen, die seit undenkbarer Zeit so gestanden haben, wie sie jetzt stehn, und die bald auch über seinem Grab glänzenwerden. Meine Sterne sind die Sonnenflecken. Wenn die Sonne durch die Blätter der großen Platane scheint, die vor meinem Schlafzimmerfenster steht, bilden sich bizarre Muster auf den orangebraunen Seidenvorhängen. Die Ornamente verhalten sich ruhig oder aufgeregt, sie variieren ihr Muster, legen sich nicht fest. Je nachdem, wie der Wind weht durch Platane und offenes Fenster, verändern sie Form und Rhythmus. Sonnenflecken sind jung. In dauernder Bewegung und Veränderung tauchen sie auf, verschwinden und kommen wieder, mal scheu, als würden sie anfragen, ob sie willkommen sind, mal mit ruhiger Selbstverständlichkeit, dann wieder übermütig tanzend. Sie reagieren auf jeden Windhauch, sind flexibel und immer wieder neu. Ich liege im Bett und staune über dieses Detail des Universums, vor allem aber staune ich über mein Interesse an solcher Einzelheit.
    Ich hätte schon früher im Bett liegen und Sonnenflecke gucken können, wenigstens am Wochenende. Hab ich aber nicht. Ich habe jede Minute genutzt, um zu schlafen. Weil es Samstagnacht spät geworden war. Weil ich mich in meinem bisherigen Leben für alles andere als für Sonnenflecken im Schlafzimmer interessiert habe. Für Kontemplation war wenig Zeit, es musste gehandelt werden, die Welt wartet auf meine Taten, dachte ich. Nicht handeln macht depressiv, schreiben die Altersforscher, sie haben Recht, man muss tätig sein, um froh zu bleiben.

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