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Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens

Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens

Titel: Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Voigt
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– ein oft gesagter Satz in Liebesnächten, die Melancholie des Moments steigert die Nähe des Moments.
    Der Fremde übergibt mir einen Packen Briefe. Es sind Liebesbriefe einer Frau, mit der er zusammen war, als wir uns kennenlernten, sie sind an ihn gerichtet, an Jan. Bianca war Sängerin, eine bekannte Sängerin. Ich verstehe gar nichts, warum will er mir die Briefe geben, warum gibt er sie nicht ihr zurück. Bianca wird im August fünfundsechzig, sagt Jan, sie sieht jetzt aus wie eine Omi. Mir ist das Ganze peinlich, ich will sie nicht, die Briefe. Der Mann von damals erzählt mirvon seiner Frau, die Physiotherapeutin ist, von seinen Söhnen, einer arbeitet als Sportreporter, von seinem Enkel, der seiner Meinung nach falsch erzogen wird. Ein Großvater, der an der Erziehung seiner Enkel rummeckert, ist mir suspekt, einer, der seine einstige Geliebte als Omi bezeichnet, auch. Das mit den Briefen verstehe ich nicht, warum soll ich zur Voyeurin einer fremden Liebe gemacht werden. Und dann sagt er diesen Satz: Wir Herztransplantierten räumen auf.
    Herztransplantiert, du? Es sei jetzt zehn Jahre her, so lange überlebten Herztransplantierte für gewöhnlich. Was er mit den Briefen machen solle, als sie mir zu geben, jemand anderes hätte keine Verwendung dafür. Wie man lebt mit einem fremden Herz? Nichts sei wie vorher, er würde es nicht noch einmal tun. Das fremde Herz habe ihm kein Glück gebracht, es schlage nicht wie das eigene, es klopfe anders, es fühle anders, es sei eben ein Stiefherz. Selbst der Sport mache ihm keinen Spaß mehr, dabei sei er mal ein begeisterter Leistungssportler gewesen, Schwimmer. Das hatte ich vergessen. Daher also jener perfekte, muskulöse Körper einst, ich wusste nur noch, dass er an der Akademie der Wissenschaften gearbeitet hatte. Anabolika, ja, die auch, deshalb machte sein Herz schlapp. Jetzt müsse er sich weiter sportlich betätigen, um das fremde Herz am Schlagen zu halten, eine lästige Pflicht. Ich würde es nicht noch einmal tun, wiederholt er. Aber du lebst, sage ich. Mir wäre lieber, ich wär gestorben.
    Irgendwann greift er nach meiner Hand. Ich ziehe die Hand zurück, es ist alles lange her, der alte Mann ist nicht der junge Mann, Berührungen vergessen sich im Laufe eines Lebens, Nähe und Fremdheit liegen so dicht beieinander, dass man sie verwechseln kann.Das allumfassende Hochgefühl der Jugend machte uns großzügig und ungenau. Es gibt kein Comeback für Gefühle. Wir waren andere einst, sein Mund ist anders als der, in den ich mich verliebt hatte. Auch die Melancholie ist eine andere als die von damals, keine romantische Traurigkeit, sondern eine fatalistische: Was ist, vergeht. Wir verabschieden uns und gehen in verschiedene Richtungen. Ich erschrecke. Da steht einer vor dem Ende seines Lebens, jemand in einer Ausnahmesituation, jemand, der letzte Dinge ordnen will. Dass er meine Hand genommen hat, ist kein Versuch der Wiederaufnahme einer amourösen Beziehung gewesen, sondern ein Zitat vergangener Nähe, Posten einer Schlussbilanz. Missverständnis, Scham meinerseits.
    Den Packen mit den Liebesbriefen habe ich dann doch mitgenommen. Er liegt vor mir, vergilbt, versehrt, verletzlich, das Intimste ausgeliefert mir, einer Fremden. Gemildert wird der Vertrauensbruch allein durch vierzig vergangene Jahre. Ich beschließe, die alten Briefe als Recherche zu betrachten, kühl, ohne Verbindung zu mir selbst. Doch beim Lesen spüre ich eine seltsame Affinität zu der unbekannten Frau und ihrem Liebeskummer. Nicht wie ein Eindringling fühle ich mich, sondern wie eine Seelenverwandte. Welche Lust, welche Angst, welche Eifersucht ist in diesen Briefen. Die Schlacht zwischen einem Mann und einer Frau, eine Schlacht, wie sie die Jugend bereit hält. Die Geschichte einer Liebe, die glühend begann und kalt endete.
    Man darf die Schönheit und Sauberkeit und Reinheit eines Mannes nicht überbewerten, auch die Nächte der Liebe nicht, schrieb die unbekannte Frau an ihren Geliebten. Sie sehe sein geliebtes Gesicht und seinensinnlichen Mund und spüre die verdammte, wilde Sehnsucht, sie sehne sich nach ihm, wie sie sich noch nie nach einem Mann gesehnt habe. »Ich möchte Dich nie mehr loslassen«, schrieb sie. Und knapp zwei Jahre später: »Ich bitte dich letztmalig, meine Wohnung zu räumen. Ich werde niemals zu Dir zurückkehren. Mit jedem Tag wird mir bewusster, wie sinnlos und irrtümlich meine Neigung zu Dir war. B.«
    Liebesbriefe sind austauschbar, Gefühle auch.

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