Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens
Untätig aber auch. Die Sonnenflecken in ihrer unbeirrbaren Aktivität ermutigen mich zum Handeln. Allerdings: Wenn die Sonne nicht scheint, gibt es keine Flecke und keine Andacht.
Ein Fotograf entdeckte in seinem Archiv ein Foto von mir. Das Bild hat er vor vierzig Jahren gemacht,im Espresso Unter den Linden, wo Redakteure, Mannequins und Fotografen ihre Mittagspause zubrachten. Ein Goldschmied erfreute die Frauen im Café mit dem illegalen Verkauf dünner goldener Ringe, denn in dem Land, in dem ich lebte, herrschte Goldmangel. Das Foto, das so unverhofft aufgetaucht war, zeigt eine Frau, die gefallen will. Kurze Haare, direkter Blick, kokettes Selbstbewusstsein. Der Maria-Stuart-Kragen ihres Kleides verleiht der Frau auf dem Foto eine Strenge, die im Gegensatz zu ihren kindlichen Zügen steht. Ich muss da ungefähr sechsundzwanzig gewesen sein und arbeitete schon bei der Zeitung. Ich besitze Dutzende Fotos aus diesen Jahren und habe sie oft angesehen, ich kenne sie. Dieses eine kannte ich nicht. Es war eine unerwartete Begegnung mit mir selber und den temps passés, die Auferstehung eines Moments, den ich vergessen hatte. Der wiedergefundene Augenblick von Jugend war ein unverhofftes Geschenk. Am Abend stellte ich das Bild neben den Spiegel im Badezimmer und verglich mein altes und mein junges Gesicht. Hier Härte, da Weichheit, hier Ergebenheit, da Forderung. Es sind nicht die Falten, die den Unterschied machen, es ist der Blick auf die Welt, dieser Blick ohne den Schleier des Träumerischen. Ich fotografierte mich im Spiegel, abgeschminkt und abgeschmückt: Guck nicht so, Sylvie, das bist du, immer noch du!
Die ewige Identifikation mit der Jugend macht, dass unser Selbstbild gegen alle Vernunft und trotz vielfältigen Widerspruchs des Spiegelbilds das alte bleibt: forever young. Je länger man sich mit seinem Körper als jungem Körper, mit seinem Gesicht als jungem Gesicht identifiziere, um so mehr fürchte man das Alter, warnen Psychologen. Der beherzte Entschluss, Veränderungenwahrzunehmen und zu akzeptieren, schütze einen vor der Angst, zu altern. Klingt weise. Andererseits: Die Jugend nicht aus seiner Vorstellung zu vertreiben, sie bei sich zu behalten, hat auch Vorteile. Im Spiegel sein altes Gesicht zu sehen und das junge dahinter nicht zu vergessen. Nur dieses, das doppelte, ist das wahre Gesicht.
Vor einem Café sah ich einen älteren Mann, den ich schon als jungen Mann gekannt hatte, mit einer älteren Frau sitzen. Ach, guck an, Armin hat Besuch von seiner Mutter. Später erst ging mir auf: Es war nicht die Mutter des Bekannten, sondern seine Freundin. Der Bekannte, die mir unbekannte Frau und ich waren etwa gleichaltrig. Für mich aber war von uns dreien nur eine alt: die unbekannte Frau. Da der Bekannte und ich in meinen Augen wie gewohnt jung waren, fragte ich mich: Armin mit so einer alten Frau, das konnte nur seine Mutter sein. Im Kapieren dessen, dass es wohl doch seine Freundin war, mischten sich Verwunderung – so eine alte Frau? – und Anerkennung: Anders als die meisten in seinem Alter nimmt er sich eine gleichaltrige Freundin, wie nobel von ihm.
Warum hält man es für unwirklich, älter zu werden, obwohl man doch ständig damit konfrontiert ist. In dem finnischen Film »Le Havre« tauchte in einer Nebenrolle ein alter Mann auf, der mich an jemanden erinnerte. Auf dem Abspann sah ich, es war der Godard- und Truffaut-Schauspieler Jean-Pierre Léaud, eine Ikone der Nouvelle Vague, ein Junge, der sich Film für Film geweigert hatte, erwachsen zu werden. Und jetzt stand da ein alter Mann, unbestreitbar ein Angehöriger meiner Generation. Als sein knabenhaft träumerisches Gesicht mit »Sie küssten und sie schlugenihn« in Frankreich berühmt wurde, machte ich in Ostberlin Abitur. Nun ist er, unversehens, wie mir scheint, ein alter Mann, und wenn Jean-Pierre Léaud ein alter Mann ist, bin ich eine alte Frau.
Gut, dass ich nicht Marlene Dietrich bin, sonst müsste ich schleunigst in die Matratzengruft, immerhin in Paris, aber was nützt einem Paris, wenn man nicht mehr aus dem Haus geht, weil man sich selber in die Einsamkeit gebeamt hat, damit aus der Ikone Marlene nicht »die alte Dietrich« wird. Damit der »Mythos des 20. Jahrhunderts« nicht zu einer mageren Greisin schrumpft. In der Avenue Montaigne 12 hat sie zuletzt gewohnt, nahe den Champs Elysées, hinter zugezogenen Gardinen. Sie hat bestimmt, wann der Vorhang fällt. Der freiwillige Ausschluss aus der Welt war, wie der Maler
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