Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens
Wenn man jung ist, erscheint alles einzigartig; später weiß man, Nähe ist vorübergehend. Was man für Liebe hält, ist allenfalls eine Vermutung, der Geliebte eine wechselnde Projektionsfläche. Die Austauschbarkeit des geliebten Objekts könnte Liebeskummer besänftigen, die Einzigartigkeit an der Liebe ist die Liebe selbst. Die Glut der B. ist wahr gewesen, die Hoffnung echt, die Enttäuschung auch. Die Sehnsucht bleibt; wer sagt denn, dass derselbe Brief nicht auch von einer alten Frau oder einem alten Mann geschrieben werden könnte.
Wo ist es geblieben, das Hochgefühl. Das Hochgefühl, zu leben. Das Hochgefühl, zu fühlen, zu riechen, zu schmecken, zu laufen, zu lachen. Gestern habe ich eine Kassette mit zehn CD’s voll mit Rock ’n’ Roll gekauft, Be-Bop-A-Lula. Meine ganze Jugend für Neuneuroneunundneunzig. Rock ’n’ Roll wirkt bei mir wie ein Pawlowscher Reflex, ein Glücksversprechen, ich muss tanzen. Ab und an gehe ich mit meinen jungen Freundinnen in Clärchens Ballhaus. Da hält zwischen dreißigjährigen Swingschülern der Swingkönig Hof, mit weißem Schal, Hut und Lackschuhen, der einzige Alte im Ballhaus. Der kann nicht nur Swing, der kann auch Rock ’n’ Roll. Einmal lässt der König sichherab, mit mir zu tanzen. Wohl lange nicht mehr auf dem Tanzboden gewesen, stellt er fest und meint meine mangelnde Perfektion, er selber übe jeden Tag, Rock ’n’ Roll sei sein Leben. Das berichte ich, atemlos nach nur einer Runde, meiner Freundin Simone: Rock ’n’ Roll ist sein Leben, hat der Swingkönig gesagt. Das ist zu wenig, meint Simone, du weißt schon, »Wolke 9«. Nicht das jetzt, ein Film, in dem Sex zwischen alten Leuten gezeigt wird, ist taktlos. Sei nicht immer so kategorisch – Simone zündet sich im Wintergarten des Ballhauses die dritte Zigarette an, ich habe sie in die Raucherlounge begleitet, obwohl ich nicht rauche. In Filmen über junge Liebe taucht man die Sexszenen in günstiges Licht, damit die Körper noch makelloser aussehen, in Filmen über alte Liebe werden die Runzeln und Hängepartien der betagten Leiber gnadenlos ausgeleuchtet, ereifere ich mich. Du immer mit deinem Licht, grinst Simone.
Gestern traf ich Ilona, sie saß hinter mir im Kino und sah sehr viel jünger aus, als sie jetzt sein musste. Michel hat mir geschrieben, sprudelte sie aufgeräumt, sie betonte den Namen auf der zweiten Silbe, du weißt doch, Michel, der Spanier! Na, eben, sagte ich, er war Spanier, nicht Franzose – Miguel, nicht Michel! Michel war dreißig damals, ich fünfundvierzig – Ilonas Gesicht bekam einen gerührten Ausdruck. Wir haben in letzter Zeit öfter telefoniert, Michel ist immer noch sehr sexy, sagte sie etwas zu laut. Nicht Michel – Miguel!, verbesserte ich, was sie nicht weiter beachtete. Ich habe ihn zu meinem siebzigsten Geburtstag eingeladen, seitdem hat er sich nicht mehr gemeldet – Ilona teilte es mit Nachsicht mit, dann wurde es dunkel im Kino.
Ich habe alte Freundinnen und junge. Die alten sind kompliziert geworden. Evi will sich nicht erinnern, sondern »nach vorne schauen«, was soll mir eine Jugendfreundin, die sich nicht an die Jugend erinnern will. Du musst dich auf dein Alter vorbereiten, mahnt sie jedesmal, wenn wir uns treffen. Ihr müsst euch ein WC mit Haltegriffen installieren lassen. Du musst deine Bücher verschenken und dich von alten Briefen und Fotos trennen. Man muss loslassen können, alte Menschen brauchen nicht mehr viel. Du musst loslassen!, das sagt sie oft. Sie schaffe sich schon lange keine neuen Kleider und keine Bücher mehr an, sie lese die alten Bücher und trage ihre alten Kleider ab, sie käme ohnehin nirgendwo mehr hin außer zur Langen Nacht der Museen, und da behalte sie den Mantel an. Loslassen, vielleicht sollte Evi erst einmal ihre alten Kleider loslassen.
Du musst dir Prospekte über Mehr-Generationen-Häuser und betreutes Wohnen besorgen, über die besten und billigsten Pflegeheime, du bist ja gänzlich unvorbereitet, wenn es soweit ist, sagt Evi. Ich kann mich nicht mehr auf das Alter vorbereiten, bemerke ich matt, ich bin schon alt. Du nimmst das zu leicht, meint Evi, die sich seit zwanzig Jahren auf ihr Alter vorbereitet. Wir haben schon unser Grab bestellt, sage ich; da staunt Evi, aber nicht lange. Du musst rechtzeitig einen Pflegevertrag abschließen mit der Friedhofsverwaltung, sonst müssen deine Kinder sich um dein Grab kümmern, rät sie. Sie lasse ihre Asche verstreuen, anonym, das sei sauberer, praktischer und
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