Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens

Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens

Titel: Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Voigt
Vom Netzwerk:
weil mir einfiel, dass die jungen Männer auf den Fotos jetzt alte Männer sind, und dass das nicht zu ändern ist. Meine jungen Freundinnen sind rührend und witzig. Außer wenn sie auf ihre Rente zu sprechen kommen, mit Mitte Dreißig. Musst dich nicht sorgen, Omi, sage ich dann, deine Ansprüche sind ja nicht groß; Cabrio, Saint-Tropez, Schönheits-OP, das passt schon. Empört kontert Tanja: Du hast gut reden, deine Rente ist sicher.
    Alte Männer halten lebenslang für möglich, dass eine junge Schöne kommt und sie auserwählt. Dass ein schöner junger Mann kommen und mich auserwählen könnte, halte ich für unmöglich, abgesehen davon, dass ich mich nicht auswählen lassen würde. »Nicht aus dem Fenster lehnen – Lebensgefahr« standmal auf Schildern unter den Fenstern der D-Züge. Im Alter wittert man überall Gefahr, weil man die Fragilität des Lebens kennt, die Angst vor der schlechten Nachricht richtet sich in der Seele ein wie eine Untermieterin, die sich als Hauptmieter aufführt. Etwas in meinem Kopf ist offenbar der Meinung, dass man die schlechte Nachricht verhindern kann, wenn man sie nur genug fürchtet. Wenn es in seinen Jünglingsjahren an der Tür schellte, wurde Schopenhauer vergnügt, »denn ich dachte, nun käme es«. In späteren Jahren empfand er bei demselben Anlass etwas dem Schrecken Verwandtes, er dachte: »Da kommts.« Die erste Lebenshälfte wird, so sagt der Philosoph, von der unbefriedigten Sehnsucht nach Glück bestimmt, die zweite Hälfte von der Besorgnis vor Unglück.
    In aller Frühe klingelt das Telefon. Hier ist der Malteser Hilfsdienst, sind Sie Frau Ludens? Ja. Ich möchte Ihnen eine Mitteilung machen, haucht eine Betroffenheitsstimme. Mir erstarrt das Blut in den Adern, ich sehe meine Töchter in verunglückten Autos, meine Enkelkinder in Fahrradunfälle verwickelt. Ich möchte Ihnen unsere Dienste anbieten, fährt die anteilnehmende Stimme fort, Sie bekommen einen Notknopf an Ihr Handgelenk, da können Sie draufdrücken; wenn es Ihnen schlecht geht, bekommen Sie Hilfe. Ich brauche keinen Knopf, ich brauche keine Hilfe, schon gar nicht morgens um halb acht, schreie ich ins Telefon und lege auf, unfreundlich und bleich vor Schreck.
    Am Nachmittag, es ist November, tröste ich mich mit Tee und Himbeerkonfitüre über die Düsternis des Tages hinweg. Beim Blick aus dem Fenster entdecke ich gegenüber meines Hauses zwei Männer in blauen Overalls, die Dacharbeiten ausführen. Sie transportierenlange Stangen. Der eine balanciert mit der Stange auf einem schmalen Brett wie ein Seiltänzer; falls er fiele, würde er auf den darunter liegenden Balkon fallen, das wäre eher schmerzhaft als schlimm. Der andere übernimmt die Stange von seinem Kollegen und trippelt damit vorsichtig über das regennasse Dach; wenn er fiele, könnte es ein Unglück geben. So geht das eine Stunde lang, der eine zieht die Stange an einem Seil von unten hoch, der andere übernimmt sie und tastet sich mit ihr über das glatte Dach. Dunkelheit bricht ein, die Blauen machen weiter, bis sie im Nebel verschwunden sind. Ich beneide die Blaumänner, Gefahr ist ihr Alltag, sie wissen von ihr, aber sie fürchten sie nicht, sie halten sie für berechenbar. Angst habe nur ich. Weil ich die Faktoren dieser Rechnung nicht kenne; ich kenne selten die Faktoren.
    Ich habe Angst vorm Zahnziehen, vor alten Männern und vorm Fliegen. Meine Flugangst erreichte eine neue Qualität, als ich, das war noch zu Zeiten der Sowjetunion, in einer Maschine saß mit zwei gut gelaunten betrunkenen russischen Piloten im Cockpit. Das Flugzeug startete mit unheilvoller Musik: »Ich tanze mit dir in den Himmel hinein, in den siebenten Himmel der Liebe«. Ich setzte meine Kopfhörer auf und hörte Leonard Cohen; wenn ich schon abstürze, dann wenigstens getröstet von einer erotischen Stimme. Erst ab sechzig fliege ich wieder, hatte ich damals beschlossen, da ist es egal, ob ich runterfalle oder nicht, da bin ich sowieso alt. Jetzt bin ich schon lange sechzig und fliege immer noch nicht, ich bin zu jung, um abzustürzen.

ECHO IV
    Alte sind Jugendliche mit Überblick
    Spackes Kerlchen. Hungerleidergesicht, Fassonschnitt, Kassengestell, offener Hemdkragen über dem Jackett, so trugen auch die FDJ-Funktionäre ihre Hemden. In den Fünfzigern nicht gerade ein Typ, der das Interesse der Mädchen erregte. Man wollte was sein und war nichts, sagt Kiedorf. Dekolehrling war er, in Sonneberg, Haus der Dame, HO. Mit einer nackten Schaufensterpuppe

Weitere Kostenlose Bücher