Spatz mit Familienanschluß
Hast du dann ordentlich gegessen, sind deine Beschwerden sicherlich wie weggeblasen.«
»Ich will aber nach Hause«, jammerte Kathrin.
»Kind, wir sind auf dem Weg dorthin.«
»Ich will aber sofort.« Man mußte befürchten, daß sie gleich weinen würde.
»Also hör mal zu«, begann Vater noch immer freundlich, aber sehr bestimmt. »Wenn du Ohrensausen und Schwindelgefühle hast, dann gibt es nur eins: Pause machen und etwas Kräftiges zu sich nehmen. Ist dir dann noch immer nicht besser, dann übernachten wir hier und fahren morgen weiter. Schließ bitte die Tür.« Vater war schon auf dem Weg zum Eingang.
Mutter blieb bei Kathrin zurück, um ihr zu zeigen, wieviel Menschenkenntnis sie hatte. »Und jetzt hörst du mir ein paar Sekunden zu«, sagte sie. »Wenn du den anderen und mir die letzten Urlaubsstunden zerstören willst, dann wird dir das nicht gelingen.«
»Aber wenn mir so schlecht ist.«
»Ich hab dich während der Fahrt beobachtet. Wenn ich dich direkt angesehen habe, war dir schlecht, und es ist dir gleich besser geworden, wenn ich scheinbar weggesehen habe.«
»Aber...«
»Kein Aber, wir verstehen uns. Verstanden?«
Gut, dachte Kathrin, dann werde ich ein halbes Paar Wiener Würstchen essen und höchstens eine Viertel Semmel. Das war ihr fester Vorsatz, der sofort zu wanken begann, als sie das Restaurant betrat. Weiter vorne stand Markus und winkte. Vater war mit Stefanie und dem Ober schon in einem kleinen Nebenraum verschwunden.
Ringsum an den Tischen war gedämpfte Unterhaltung zu hören, zartes Gläserklirren, leises Besteckgeklapper.
»Wir gehen in einen Nebenraum mit nur vier Tischen, da sind wir mehr unter uns.« Markus bot einen seltenen Anblick. »Es gibt Kalbsbraten mit verschiedenen jungen Gemüsen und Reis.«
»Wieso weißt du das so genau?«
»Der Ober hat es mir gesagt.«
»Markus«, fragte Mutter, »gibt es das, daß du einmal im Leben Appetit hast?«
Kathrin wollte etwas Spitzes sagen. Etwa, er wird sich doch jetzt nicht Kummerspeck zulegen, natürlich Liebeskummerspeck, aber sie biß vorher noch schnell die Lippen aufeinander. Stefanie hatte sich schon neben Vater gesetzt und rief schwärmerisch: »Ich find’s Klasse, daß du uns da herführst.«
»Sag nicht Klasse«, bat Markus. »Ich muß sonst sofort an die Schule denken.«
Als sie die Speisekarte studierten, sie war ein Prachtband in Leder, wurde es still. Bei jeder Speise waren die Gewürze genau aufgeführt, so stand beim Kalbsbraten, daß er mit einem Rosmarinzweiglein garniert und von einem Gemüserand umgeben sei, dazu Zitronenschaum und Risi-Pisi.
Stefanie mußte immer wieder die Schilderung des Cordon bleu lesen. »Cordon bleu mit echtem Emmentaler und würzigem Prager Schinken gefüllt, dazu Pommes frites und kleiner Salatteller oder nur großer Salatteller von unserer Salatbar.«
Kathrin hatte all ihre bösen Vorsätze schnell vergessen. Sie wollte eine kleine Vorspeisenplatte und dann zwei gegrillte Toumedos à la Rossini und zum Dessert... Sie suchte lange. »Einen Fruchtsalat. Kann ich zwei Vanilleeiskugeln dazu haben und Sahne drauf?« fragte sie den Kellner.
Sie konnte.
»Ist das nicht ein bißchen zu üppig?« fragte Mutter. »Laß sie«, sagte Vater, »laß sie essen, was sie will, essen macht friedlich.«
Vater entschied sich übrigens für einen gebratenen Hecht mit Petersilienkartoffeln in Butter geschwenkt. Und Mutter wollte Kalbsleber auf venezianische Art mit Polenta.
Stefanie widmete sich nach dem Studium der Speisenkarte der Betrachtung der näheren Umgebung. Sie zählte nur fünf Stühle am Tisch und nicht sechs wie im Residence. Gut, dafür hatten die Stühle hier Armlehnen. Trotzdem ging ihr etwas ab. Sie wußte auch gleich, was.
»Wißt ihr, was mir hier abgeht?« fragte sie in die Runde. Und da niemand wußte, was sie vermißte, beantwortete sie ihre Frage selbst: »Mir geht der sechste Stuhl ab und auf der Stuhllehne unser Ferienspatz, der Terrassenspatz, der freche, der auf den Tellerrand von Markus hüpfte.«
»Ach ja, richtig«, sagte Vater, »dieser Frechdachs, dein Freund, Markus. Hast du dich eigentlich von ihm verabschiedet?«
Markus nickte. »Der wäre jetzt sicher gerne mit dabei. Erbsen mit Reis, aber auch Polenta mochte er besonders gem.«
Während des Essens bemerkte Kathrin, daß Markus immer wieder einmal Reiskörner oder Erbsen an den Tellerrand schob. Aus Gewohnheit sicher. Als würde der Spatz auch hier auf den Tisch kommen. Er spinnt eben, dachte sie.
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