Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau
aufwacht, bevor ich heimgehe. Macht es dir was aus, noch ein bisschen länger hierzubleiben?«
»Nein, gar nicht. Zuhause wartet ja niemand auf mich.«
»Tja, irgendwie befinden wir uns im selben Boot, oder was meinst du?«
»Wohl kaum«, antworte ich. »Du hast jemanden, an dem du sehr hängst. Ich weiß nicht, ob ich von mir dasselbe sagen kann. Dich und Erik jetzt zusammen zu sehen, nach all diesen Jahren immer noch so verbunden, und vorhin das verliebte Brautpaar – ich muß zugeben, daß ich mich ziemlich ernüchtert fühle.«
»Das ist so mit solchen Spektakeln. Sie geben ein völlig unrealistisches Bild von allem ab. Menschen, die lange Zeit zusammenleben, enttäuschen und kränken einander unvermeidlich, |47| genauso wie sie einander erfreuen und zufriedenstellen. Das ist die menschliche Natur. Und dann noch all die Machtkämpfe. Du glaubst doch wohl nicht, daß Erik und ich die ganze Zeit ein perfektes Paar waren, oder?
»Nein, wahrscheinlich nicht.«
»Liebe ist ein Risiko, und Scheidung kann vernünftig sein«, sagt sie nüchtern.
»Glaubst du wirklich?« Ich bin erstaunt, daß sie das so unbekümmert ausspricht.
»Allerdings. Eine meiner besten Freundinnen war mit einer absoluten Niete verheiratet. Es ging ihr viel besser, als sie ihn los war.«
Ich frage mich, wer für sie als »Niete« gilt. Ich habe Robin sicherlich nie als eine solche betrachtet. Wahrscheinlich sollte ich darüber erleichtert sein.
»Schau, Liebes, wie ich vorhin schon gesagt habe, die Ehe ist heilig, aber sie benötigt eine leichte Hand. Man kann sich nicht ständig auf die Beziehung konzentrieren. Dann könnte man kaum atmen. Außerdem ist so eine Hingabe Unfug. Ich denke, du hast die für dich notwendige Pause eingelegt. Welche Vereinbarung habt ihr überhaupt?«
Ihre Frage versetzt mir einen Schock. Ich bin erst mal sprachlos. »Eigentlich haben wir keine Vereinbarung. Ich habe mich nie ernsthaft mit dem Gedanken an Scheidung oder Trennung befaßt. Ich wollte nur einen Urlaub von der Ehe. In der Zwischenzeit ist er mit sich ins Reine gekommen und spricht seit kurzem von Frühpensionierung und davon, hierher zu mir zu kommen. Also, um deine Frage zu beantworten, wir haben keine Vereinbarung – nur den vagen Gedanken, daß wir nach einiger Zeit wieder zusammenkommen.«
»Ich finde, du bist recht mutig«, sagt sie zu meiner Verblüffung. »So viele Paare klammern sich an das, was sie hatten, statt auf das zuzustreben, was sein könnte. Weißt du, Rilke hatte recht, als er meinte, die größte Aufgabe für zwei Menschen |48| in einer Beziehung sei, die Einsamkeit des anderen zu beschützen. Vielleicht seid ihr, du und dein Mann, tatsächlich innovativer als andere.«
»Ich hoffe, daß das stimmt.«
»Erik und ich waren ziemlich unvorhersehbar«, fährt sie fort. »Wir haben unser Leben immer an das angepaßt, womit er gerade beschäftigt war. Manchmal arbeitete er rund um die Uhr, zu anderen Zeiten war er tagelang zu Hause. Man muß die Situation des anderen verstehen und auf derselben Wellenlänge sein, um mit solchen Fluktuationen fertig zu werden. Aber im Nachhinein gesehen war es vielleicht die Unvorhersehbarkeit, die uns half, der lastenden Routine zu entkommen. Ich glaube, unsere Hingabe an die tägliche Routine veranlaßt uns, den Blick aufeinander als einzelne, getrennte Individuen zu verlieren.«
Ich fühle mich immer noch durch ihre Worte getröstet, aber ich möchte auch das Thema wechseln. Da wir uns nach wie vor in einem frühen Stadium der Freundschaft befinden, ist mir daran gelegen, sie mit meinem Leben zu beeindrucken, statt so viel dreckige Wäsche vor ihr auszubreiten. Ich schaue über ihre Schulter und sehe, wie eine Schwester Erik in seinem Rollstuhl in den Garten bringt. Wieder bekommt Joan diesen Ausdruck – überwältigt von seinem schieren Anblick. Drei sind einer zu viel, finde ich. Ihre Zeit mit ihm ist das Wesentliche. Ich verabschiede mich, angefüllt mit bittersüßen, widersprüchlichen Gedanken.
|49| Eine Überdosis für die Sinne
An einem Sonntag nehme ich Joan mit in meine kleine Lieblingskirche, weil ich weiß, daß der vertraute Gottesdienst sie zu ihren anglikanischen Wurzeln und ihrer Kindheit in Gananoque, Kanada, zurückführen wird. Die Kapelle liegt in einer Senke und ist umgeben von hohen, schützenden Kiefern. Wenn alles still ist, kann ich die Vögel an den vielen Futterhäuschen auf dem Gelände hören, und neben den Kerzen und Blumen rieche ich durch die Ritzen im Holz
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