Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau
dieser kleinen Zufluchtsstätte das Meer.
Alles hier ist handgemacht – der Altar, die Buntglasfenster, die gehämmerten Wandleuchter mit ihren tropfenden Kerzen, die alten Segelschiffe, die von den Dachsparren hängen, und das wie eine Muschel geformte Taufbecken. Die gesamte Kirche ist eine Spende der Gemeinde. Ich spüre, daß ihre Handarbeit den Suchenden half, ihren Glauben zu stärken.
Am Ende des Gottesdienstes bin ich von Frieden erfüllt und bereit, nach Hause zu gehen, aber Joan möchte offenbar noch etwas herumstreifen. Sie wandert über den Friedhof, um die alten Grabsteine herum, die verstreut unter mehreren prächtigen Eichen stehen. Ich habe eine Aversion gegen Friedhöfe, daher bin ich halb abgeschreckt und halb verzaubert, aber ich folge ihr trotzdem, während sie Bemerkungen zu den hier Bestatteten macht.
»Ehrwürdige Namen, und alle sehr neuenglisch«, meint sie. »Ist dir ihre Lebensdauer aufgefallen? Die meisten waren recht langlebig.« Sie befindet sich in ihrer eigenen Welt und bleibt schließlich vor einem ziemlich großen, reich verzierten Granitstein |50| stehen. »
Elijah Doane
«, liest sie laut vor. »
Geliebter Ehemann, Vater, Großvater... 1860 – 1928
. Hm. Weißt du«, sagt sie und schaut zu mir, »wieviel Zeit einem auf dieser Erde bleibt, spielt viel weniger eine Rolle als das, was man daraus macht.«
»Wie bitte?« Ich gehe näher zu ihr, um ihr meine ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken.
»Es geht alles um das hier«, sagte sie, hebt ihren Spazierstock und deutet damit auf den Zwischenraum zwischen den Jahreszahlen. »Wie viel man aus seinem Gedankenstrich macht. Ich fand es amüsant, irgendwo sogar ein Gedicht darüber zu finden.« Und damit richtet sie sich auf und rezitiert etwas über das Geburtsdatum und das Todesdatum, und daß der Gedankenstrich für all die Zeit steht, die man auf Erden verbringt. »Eine interessante Vorstellung, nicht wahr«, meint sie, während sie den Grabstein betrachtet. »Offenbar war Mr. Doane ein Familienvater. Wer weiß, was er sonst noch gemacht hat, aber ich kann dir versichern, daß es mehr ist, als der Gedankenstrich enthüllt. Jeder Friedhofsbesuch erinnert mich daran, daß ich noch ein bißchen mehr aus meinem Tag herausholen sollte.«
Wir gehen weiter, eine Reihe nach der anderen, bis Joan plötzlich stehen bleibt und mich direkt anschaut. »Wie alt bist du, Liebes?«
»Einundfünfzig.«
»Erst! Du hast gerade mal die Mitte erreicht. Denk nur, wenn du so wie ich werden solltest, bleiben dir noch gute vierhundertachtzig Monate – viel Zeit, deinen Gedankenstrich zu füllen.« Sie gackert fast über ihren unheimlichen Weitblick.
»Vierhundert Monate, ist das alles?« Bei dieser Vorstellung versinke ich in Schweigen. Kann ich mich überhaupt daran erinnern, was letzten Monat war oder gestern?
»Verlassen wir diesen Friedhof und gehen zum Brunch zu mir nach Hause«, schlage ich vor, um ein wenig von diesen Gedanken wegzukommen.
|51| »Hört sich himmlisch an. Ich mag dein Cottage und deine Kochkunst, meine Liebe. Und wenn ich es recht bedenke, bin ich am Verhungern.« Arm in Arm gehen wir zum Auto, steigen ein, öffnen die Fenster, lassen die Brise durch unsere Gedanken wehen, bis Joan aus der Bibel zu zitieren beginnt. »
Lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden
«, sagt sie. »Das ist aus den Psalmen. Mein Vater hat uns die Bibel auswendig lernen lassen«, fährt sie fort. »Manche Zeilen erscheinen einem nützlicher als andere.«
Ich will so schnell wie möglich in mein Cottage und meinen heimeligen Wald zurück, weg von Tod und Sterben. Sie hat mir zu sehr bewußt gemacht, wie selbstverständlich mir jeder Tag erscheint, und das verstört mich. Ein spätes Frühstück zuzubereiten, wird diese Gedanken verscheuchen. Sobald ich in der Küche bin, krame ich im Kühlschrank herum, hole Pilze, Frühlingszwiebeln, Basilikum und Gouda heraus, finde dann noch eine Dose Artischockenherzen. Während das Gemüse kurz anbrät, lege ich Musik auf und rufe Joan zu: »Hättest du gern ein Glas Port oder lieber eine Bloody Mary?«
»Eine Bloody Mary klingt gut«, antwortet sie. »Port trinke ich nur am späten Nachmittag oder bevor ich eine Rede halten muß.«
Ich lächle über ihre Fähigkeit, eine schrullige Angewohnheit zu gestehen, und mixe die Drinks ganz schwach, weil ich inzwischen gelernt habe, daß ein bißchen Alkohol in ihrem Alter und Zustand enorme Wirkung haben kann.
»Wie kann ich
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