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Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau

Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau

Titel: Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joan Anderson , Susanne Aeckerle
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als Schwerter eigneten oder zum Rösten von Marshmellows. Wie sie scheint Joan entzückt davon zu sein, daß ihre Fußknöchel vom dichten Bewuchs des frisch gesprossenen Farns naß werden, und sie wird noch aufgeregter, als sie einen Pirol hört. »Ich habe seit Ewigkeiten keinen Pirol mehr singen hören«, sagt sie und reckt den Hals, um zu sehen, woher die Töne kommen.
    »Es ist hoffnungslos, in diesem dichten Gehölz etwas entdecken zu wollen«, erwidere ich ungeduldig, möchte sie weiterdrängen. »Komm, wir haben noch eine Viertelmeile zu gehen.« Gerade als wir unseren Schritt beschleunigen, fällt ein Lichtstrahl durch die Lichtung einer Kieferngruppe, beleuchtet wie ein Scheinwerfer eine majestätische Damhirschkuh, ganz in Beige und Weiß, die an einer Rinde knabbert. Wir erstarren, unfähig zu glauben, daß wir einem Wildtier so nahe sind. Sie schaut zu uns herüber, schnaubt kurz, läßt ihren weißen Spiegel aufblitzen und verschwindet anmutig im Dickicht.
    »Tiere führen ihr Leben trotz uns, nicht wahr?« flüstert Joan, immer noch erstarrt. »Sie verlangen nichts von uns Menschen.«
    »Zu schade, daß es nicht auch anders herum funktioniert«, erwidere ich.
    »Wie meinst du das?«
    »Das Ökosystem. Lebewesen sind grundsätzlich verantwortlich für das Gleichgewicht von allem, und doch sehen es die meisten Menschen nicht so. Ich habe mal ein Kinderbuch mit dem Titel
Earthkeepers
geschrieben, das sich mit Ökologie beschäftigte.«
    »Was für ein hübscher Titel, Liebes. Wir sollten alle nach so einer Rolle streben.«
    »Allerdings. Einer der ›Erdbewahrer‹ war ein Mann in der |55| Wildnis von Minnesota, der das Leben der Bären beobachtete. Er fand heraus, daß ein Bär etwa zweitausend Quadratmeter Wald zur Nahrungssuche braucht. Bauunternehmer aus der Gegend wollten den Wald abholzen, um Ferienhotels und Häuser zu bauen. Mein Erdbewahrerfreund versuchte sie davon zu überzeugen, daß durch das Abholzen Hunderte Arten verschwinden würden, die ebenfalls auf diesen zweitausend Quadratmetern lebten, unsichtbar, aber trotzdem lebenswichtig, weil sie zur Ökologie dieses bestimmten Gebietes beitrugen.«
    »Das ergibt Sinn«, antwortet Joan. »Und was ist passiert?«
    »Was glaubst du? Die Bauunternehmer gewannen. Darum dringen Bären bei ihrer Nahrungssuche auf Campingplätze ein, kommen näher an die Städte. Nichts ist so, wie es sein sollte.«
    »Hm«, macht sie. Wir gehen schweigend weiter, ich jetzt in Führung, sie hinter mir. Von Zeit zu Zeit bleibt sie stehen, um das eine oder andere mit der Spitze ihres Spazierstocks umzudrehen. »In deinem Wald gibt es ziemlich viele Pilze«, sagt sie, verzaubert von einem gewaltigen orange-weißen Exemplar. »Als ich klein war, habe ich Pilze gesammelt... hatte ein Buch, das jede nur denkbare Art erklärte.« Sie weicht vom Pfad zu einer Ansammlung von Fliegenpilzen ab. »Die sind tödlich«, ruft sie, gackert wie ein Medizinmann. »Wenn man einen davon ißt, war’s das.«
    Eine Mücke sticht mich ins Bein, und ich schlage zu, merke, daß meine Ungeduld zurückkehrt. »Komm, Joanie, laß dir helfen«, sage ich, strecke die Hand aus und winke Joan zu mir. Wir schieben uns weiter den Pfad entlang, der eher flüssig als fest ist, und betreten endlich das sichere, sandige Ufer. »Hier ist er«, platze ich stolz heraus, präsentiere ihr dieses Stück offenen Raum und den fast kreisrunden Süßwassersee. »Was hältst du davon?«
    »Phantastisch. Ein See ist so heiter und sicher, findest du nicht? So ganz anders als das Meer.«
    |56| »Na ja, zum einen ist es eine begrenzte Menge Wasser«, erwidere ich. »Ich habe hier immer ein Gefühl der Zufriedenheit – das Gefühl, gehalten zu werden   –, wahrscheinlich weil man sich vorstellen kann, vom einen Ende zum anderen zu schwimmen.«
    »Sollen wir?« fragt sie spaßhaft. In dem Moment sieht sie eine Schwungfeder, die vom Wind hochgeweht wird, und kann nicht widerstehen ihr nachzulaufen. Zwar verliert sie die Feder, geht aber weiter zu einem Floß, das am Ufer liegt.
    »Puh! Was für ein Vergnügen«, ruft sie und winkt mir, ihr zu folgen. Rasch schlüpft Joan aus ihren Schuhen und läßt die Beine ins Wasser baumeln, schwingt sie vor und zurück, spritzt herum wie ein kleines Kind, dem die Mutter gerade befohlen hat, sich nicht naß zu machen.
    »Ich bin zu Hause«, ruft sie fröhlich, »vollkommen zu Hause.«
    »Da du in Ontario aufgewachsen bist, hast du dich bestimmt sehr von Land eingeschlossen

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