Spaziergang im Regen
fast genauso sehr wie ihre Gespräche. Als sie langsam Müdigkeit verspürte, erkannte sie erschrocken, dass es bereits ein Uhr morgens war. Nachdem sie noch am Nachmittag so erschöpft gewesen war, konnte sie kaum glauben, dass sie so lange aufgeblieben waren.
Noch unglaublicher war allerdings, dass sich an ihrem ersten gemeinsamen Abend allein seit der Hütte die sexuelle Anziehung zwischen ihnen sich nicht als Problem herausstellte. Alles war zwar unverändert: Ihr Körper reagierte auf die gleiche Art, wenn sie Jessa sah und ihr nahe war. Aber ihr Verlangen war nicht nur körperlich, also lenkte sie sich dadurch ab, dass sie sich auf den Wohlklang von Jessas sanfter Stimme konzentrierte und auf ihren Sprachrhythmus und auf das, was sie zu sagen hatte.
Sie sprach mit Jessa über Dinge und Menschen, die ihr wichtig waren, und sonnte sich in Jessas intelligentem Einfühlungsvermögen. Sie erzählte von witzigen Begebenheiten, weil sie Jessas Art zu lachen liebte. Jessa konnte auch sie zum Lachen bringen.
Aus irgendeinem Grund schien das Lachen ihre sexuelle Anziehung näher an die Oberfläche zu bringen, was gefährlich war, aber nicht so gefährlich, dass sie dafür das berauschende Vergnügen aufgegeben hätte, den ihr gemeinsamer Humor ihr bereitete. Jessas Flirten hatte einen ähnlichen, wärmenden Effekt, aber keine von beiden erlaubt es sich, weiter darauf einzugehen.
Sie hatte das Gefühl, dass sie Jessa Hanson auf eine Art kannte, wie es nur wenige andere Menschen taten, und dass Jessa sie ebensogut kannte. Daher war ihr klar, dass die Gründe für Jessas Vorbehalte bezüglich der Filmmusik weder Undankbarkeit noch ein Mangel an Bewusstsein für die Wichtigkeit dieses Projekts war. »Liebling, was hast du denn?«
Jessa drehte sich abrupt um, überrascht, Sharas Stimme zu hören, und sie so nah neben sich am Fenster stehen zu sehen. »Ach nichts, wirklich.«
»Jessa . . .« Shara zog ungläubig eine Augenbraue in die Höhe.
Zu ihrer eigenen Überraschung wurde Jessa rot und vermied es, sie anzuschauen. »Ich sollte nicht einmal so was denken. Musikalisch ausdrücken zu könne, welche Emotionen ein Film eines so berühmten Regisseurs in mir auslöst . . . Das ist eine einmalige Gelegenheit.«
»Aber?«
»Aber, es handelt sich um Vorstellungen einer anderen Person; jemandes Schöpfung. Und wenn ich das in den Sand setze? Wenn ich nicht wirklich nachvollziehen kann, was er ausdrücken will? Alles, was ich bisher geschrieben habe, war persönlich. Einerseits rät mir eine kleine innere Stimme davon ab, mich auf ein solch extrem kommerzielles Unterfangen einzulassen, aber andererseits glaube ich, dass Kunst in einem gewöhnlichen Medium erschaffen werden kann und dass es im Endeffekt nur auf das Können und die Vision des Künstlers ankommt. Wobei wir wieder beim ersten Problem angelangt wären –«
»Liebling, hör auf, dir Sorgen zu machen. Du bist eine begabte Komponistin. Ich habe die Musik gehört, die du geschrieben hast, Pop und Klassik, und wenn du es nur willst, dann wird es ein Kinderspiel für dich, die Musik zu dem Film zu schreiben, so begabt, wie du bist. Aber natürlich wirst du es nicht wie ein Kinderspiel angehen, du wirst hart arbeiten und es besser machen, als es sein muss. Du wirst das Beste abliefern.« Sie nahm Jessa beim Arm und drehte sie so, dass sie gezwungen war, sie anzuschauen. »Ich weiß, dass wir beide das wissen.«
Ihr ruhiges Vertrauen trieb Tränen in Jessas Augen; sie presste ihre zitternden Lippen zusammen, während sie dort stand, gefangen zwischen Sharas Glauben an sie und ihrem eigenen Zweifel. Schließlich wandte sie den Blick ab und sagte: »Vielleicht ist das alles eh müßig. Noch sind keine Verträge unterschrieben, und wenn ich das Konzert heute Abend gründlich vermassel, ist dieses Problem ohne Bedeutung.«
»Jessa, ich war bei der Probe und habe den ersten Durchlauf gehört. Es war schon hervorragend vor der Generalprobe in ein paar Stunden. Du hast ein Verhältnis zu den anderen Musikern, wie ich es noch nie gesehen habe. Dein Ruf für ausgezeichnete Qualität ist verdient, und du wirst auch deinen eigenen Ansprüchen heute Abend genügen – von denen wir beide wissen, dass sie höher sind, als die irgendwelcher Produzenten oder Regisseure es jemals sein könnten.«
Jessa sah sie nun mit voller Aufmerksamkeit an und suchte in ihrem Gesicht nach dem kleinsten Anzeichen von Zweifel, aber es gab keines. Sharas vollkommener Glaube in sie
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