Spaziergang im Regen
gefallen. Sie war während der Proben hinter der Bühne gewesen und hatte die technischen Diskussionen miterlebt und die Wiederholungen der Übergänge, bis Jessa zufriedengestellt war. Sie hatte das verstehende Nicken beobachtet, als Jessa den Musikern – manche von ihnen Jahrzehnte älter als sie selbst – erklärte, wie sie etwas realisieren wollte. Sie hatte den kleinen Tobsuchtsanfall der Sopranistin miterlebt, die von Jessa mit ein paar gutgewählten Komplimenten beruhigt wurde, worauf dann eine ernste Diskussion über ihre Einwände folgte.
Bei der Generalprobe am Morgen hatte Shara sich vorgestellt, wie es sein würde, wenn die Musiker in feiner Abendgarderobe gekleidet wären und die Halle voll mit zahlenden Besuchern statt der Freunde und einer Gruppe Juilliard-Studenten, aber ihre Vorstellungskraft hatte kläglich versagt.
Nach der Probe hatte sie Jessa anvertraut, dass sie sowohl ein Gefühl dafür bekommen wollte, wie es war, sie zu ›sein‹, als auch sie als Zuschauerin zu erleben, weshalb sie Schwierigkeiten hatte, sich zu entscheiden, wo sie am Abend am besten sitzen sollte.
Jessa grinste sie an. »Hinter der Bühne wird es total verrückt zugehen, nicht unbedingt die beste Atmosphäre, um sich auf den Genuss von Mahler vorzubereiten.« Sie erläuterte, dass während der Vorbereitungszeit, in der die Musiker ihre Instrumente stimmten und die Sänger ihre Stimmen aufwärmten, ein Fernsehteam versuchen würde, alle diejenigen zu interviewen, die sie für bedeutend und zitierbar hielten. Während der letzten Nachbesserungen bei den Frisuren und dem Make-up würden zum Teil schlüpfrige Witze gerissen, um die unvermeidbare Nervenanspannung abzubauen. Abgesehen von dem Fernsehteam würden Journalisten von Tageszeitungen und klassischen Radiosendern und Magazinen herumlaufen, und viele von denen würden noch ein letztes Wort mit ihr erhaschen wollen. Auch einige der reichen Mäzene würden eine quasi-Privataudienz mit der Dirigentin gewährt bekommen, als besonderes Privileg für die Zehn- oder gar Hunderttausende von Dollars, mit denen sie das Orchester oder das Kunstangebot des Lincoln Centers unterstützten.
»Wirklich? Aber musst du dich denn nicht auch auf das Konzert vorbereiten?«
Jessa zuckte mit den Achseln. »Ist alles hier drin«, sagte sie und deutete dabei auf ihren Kopf, »und wenn ich mich dem Orchester zuwende und sie mich anschauen und darauf warten, dass ich das Signal gebe, damit wir mit dem anfangen können, was wir am besten können, verlagert es sich nach hier.« Sie legte eine Hand über ihr Herz. »All die Leute und das Chaos, sogar die Zuschauer können diese beiden Orte in mir nicht berühren.« Sie zwinkerte. »Aber verrat das niemandem. Wenn ich den Leuten erzähle, dass sie ein liebenswertes Publikum waren, dann halten sie es für bedeutungsvoller, als es wirklich ist. Ich bin nur froh, wenn sie ruhig sind und ich sie ignorieren kann.«
»Demnach würde es dir nichts ausmachen, vor leerem Haus zu spielen?« Shara war fassungslos. »Für mich ist es ein prickelndes Gefühl, im Theater zu spielen statt in einem Film – unmittelbare Rückmeldung und Genugtuung. Willst du etwa sagen, dass ich ein größeres Ego habe als du?«
»Na ja, ich wollte es zwar nicht erwähnen, aber . . .«
Shara gab ihr einen Klaps auf den Arm.
»Nein, es ist nicht dasselbe, vor einem leeren Haus zu spielen – aber nur, weil Konzerthallen akustisch so gestaltet sind, dass Leute darin sitzen, weshalb sie dann zu hell oder zu trübe klingen, wenn sie leer sind.«
Shara schaute sie mit skeptischem Blick an.
»Na gut, zugegeben, wenn uns etwas so perfekt gelingt, dass ich fast das Lächeln des Komponisten vor mir sehen kann, ist es schon toll, wenn Tausende von Leuten anerkennend applaudieren.«
»Also gefällt es dir doch, für ein Publikum zu spielen.«
»Ja, manchmal. Aber nicht unbedingt für das Publikum an einem Premierenabend oder einer Gala, das oft nur anwesend ist, um gesehen zu werden, und nicht weil sie Musik lieben. Es ist schwierig zu erklären, wie unterschiedlich ein Publikum auf mich wirken kann . . .«
»Meinst du, ich könnte hinter der Bühne ein besseres Gefühl dafür bekommen, wenn ich in ihre Gesichter schauen kann?«
»Du kennst das vielleicht selbst vom Theater. Wenn ich hereinkomme, nehme ich die Gesichter kaum wahr. Ich bin tief in mich versunken und spiele die Routine ab, bis kurz vor Beginn, wenn dann alles in den Brennpunkt rückt. Hinter der
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