Spaziergang im Regen
wunden Schmerz, den sie fühlte.
»Derek ist einer der Menschen, die ich berücksichtigen muss«, gestand Shara vorsichtig ein. Und meine Agentin und Peter Garofolo und Hunderte von Leuten, die für diesen Film angeheuert wurden und deren Lebensunterhalt gefährdet sein könnte, wenn noch vor Produktionsbeginn ein Skandal aufkommen würde. Ich kenne Derek und weiß, dass er rachsüchtig sein kann. Er wäre imstande, das, was du mit Stephanie durchgemacht hast, wie ein Kindergartenpicknick aussehen zu lassen. »Die Dinge sind nicht so schwarzweiß, Jessa.«
»Manches aber schon. Manches ist grundlegend und wesentlich und wahr.« Shara erwiderte nichts, aber Jessa konnte sie leise weinen hören und fühlte ihr eigenes Herz zerbrechen. In dem Moment wurde ihr deutlich, dass Shara nicht eingestehen wollte oder konnte, was sie beide fühlten. Ihr wurde deutlich, dass Shara lieber eine Lüge mit Derek leben würde, als sich mit einer Wahrheit auseinanderzusetzen, die alles zerstören würde, was sie über sich selbst glaubte.
Wie um dies zu bekräftigen sagte Shara mit gebrochener Stimme: »Jessa, wenn du das weiterverfolgst, werde ich nicht mit dir auf Reisen gehen können.« Einfach so.
Jessa wollte jammern, Shara und die Welt anbrüllen, dass die Situation vollkommen unfair war. Sie hatte so lange darauf gewartet, so zu fühlen. Nach Stephanie hatte sie Jahre gebraucht, um sich überhaupt in einer gesunden Weise auf jemanden einlassen zu können. Sie hatte Verhältnisse gehabt und mehr Bettgenossinnen als die meisten, aber sie war immer ehrlich mit ihnen gewesen und hatte ihnen gesagt, dass sie keine feste Beziehung eingehen wollte. Aber ein Teil von ihr hatte gewusst, dass sie eines Tages dazu bereit sein würde. Es war die höchste Form von Ironie, dass sie endlich eine Frau gefunden hatte, die sie zutiefst berührte und mit der sie . . . alles wollte, dass diese Frau nun vor ihren eigenen Gefühlen Angst hatte und sich nicht auf das einlassen wollte, was zwischen ihnen passierte.
Sie schloss ihre Augen und ließ sich von dem Schmerz überschwemmen. Im ersten Moment wollte sie Shara sagen, dass sie sich verziehen sollte. Ihr sagen, dass sie ein Feigling war und sich zum Teufe scheren sollte oder wieder zurück zu ihrem Verlobten, mit Jessas besten Empfehlungen. Dann blitzten Bilder und Empfindungen durch ihr Gedächtnis: Sharas Verwirrtheit in der Hütte; Shara, die durch den Regen zu ihr schaute und sie küssen wollte, ohne wirklich zu verstehen, was sie überhaupt wollte; Shara, wie sie neben ihr saß und Chopins Nocturne spielte und sie danach mit soviel Wärme und Zuneigung anschaute, während ihre Körper sich berührten und Hitze entwickelten, an der sie sich beide wort- und tatenlos erfreuten.
Hauptsächlich dachte sie jedoch daran, wie sie sich geküsst hatten: als sie sich berührten, war es, als ob bei ihnen beiden die Kontrolle gerissen war. Sie wusste nicht, wer angefangen hatte, aber sie wusste, wenn Derek nicht nach Hause gekommen wäre, dann hätten sie es zu Ende gebracht, gleich da an der Hauswand. Sie hätten beide nicht weiter darüber nachgedacht und sich einfach geliebt. Wenn Shara die Macht dessen leugnen wollte, dann konnte Jessa das gut verstehen; sie selbst wusste seit ihrem vierzehnten Lebensjahr, dass sie lesbisch war, und trotzdem war sie vollkommen aus dem Gleichgewicht geworfen.
Hör auf, nur an dich selbst zu denken, Hanson. Gib ihr Zeit und Raum. Aber als die Stille immer mehr wuchs, drängten sich Zweifel in Jessas Gedanken. Vielleicht bist du ja nur ein heißes Bi-Experiment für eine Frau, die nichts anderes will, als Sex mit dir zu haben, wenn ihr Verlobter nicht zur Verfügung steht. So oder so, es ist wahrscheinlich besser, sich zurückzuziehen, zumindest fürs erste.
»Gut. Ich werde nichts weiterverfolgen, außer das, wofür ich in Amerika und Kanada bezahlt werde. Und Du kannst Dich darauf konzentrieren, deine Rolle zu recherchieren.«
Jessas Stimme, in umsichtig angepasster Tonart, aber krächzend von den unterdrückten Gefühlen, wirkte wie ein Faustschlag in Sharas Bauch und sie presste eine Hand darauf. Oh Gott, ich will ihr doch nicht wehtun. Aber sie sah keinen anderen Ausweg aus der unmöglichen Situation, in der sie sich befand. »Jessa, ich –«
»Ich sehe dich dann am Flughafen?« Jessa versuchte mit übermenschlichen Kräften, ihre Worte unbeschwert klingen zu lassen, aber sie klangen nur unglaubhaft in den Ohren der Frau, die sie mittlerweile so gut
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