Spaziergang im Regen
verursachte ein wohlig warmes Beben in ihrem Bauch, und sie fühlte sich überwältigt.
»Komm her«, sagte Shara leise und zog Jessa in ihre Arme, um sie eng an sich zu drücken. Während sie sie hielt, sagte sie sanft: »Dies sind die Regeln: Ich bin hier die flatterhafte Schauspielerin, die eine Selbstvertrauenskrise haben darf und aus heiterem Himmel entscheidet, dass sie nichts wert ist. Du bist die unglaublich begabte Dirigentin, die überall Musik sieht und deren Hände sich beim Abheben eines Flugzeugs bewegen, weil sie beim Zuschauen komponiert und in ihrem Kopf Klavier spielt. Das bist du, Jessa. Und das wirst du sein, mit oder ohne Filmvertrag, mit oder ohne die New Yorker Philharmoniker.« Sie lockerte die Umarmung, um Jessa anschauen zu können. »Verstanden?« Ihre Stimme hatte einen leicht belustigten Ton.
Jessa musste trotz ihrer vorherigen Befürchtungen lächeln. »Du bist unglaublich.«
»Nein.« Shara lächelte zurück. »Ich bin hungrig. Und wenn ich nicht bald gefüttert werde, dann werde ich ganz schnell gefährlich.«
Die Lachfalten um Jessas Augen wurden tiefer und sie grinste. »Nachdem ich dich habe essen sehen, macht mich das angemessen nervös.«
Als wäre ihnen zur gleichen Zeit klargeworden, dass sie sich in den Armen hielten, ließen sie diese rasch sinken und traten einen Schritt zurück; Shara wandte verlegen ihren Blick ab, und Jessa schaute leicht ratlos drein.
»Möchtest du irgendwo zum Frühstücken hingehen?« fragte Shara. Essen war ein sicheres, neutrales Thema.
Jessa zuckte mit den Schultern. »Warum nicht? Ich kenne da genau das Richtige in Chelsea; warum sollten wir nicht ausnutzen, dass wir einen Wagen mit Chauffeur zur freien Verfügung haben.« Sie zögerte, sagte dann aber doch leise: »Und Shara?«
Shara schaute sie mit fragend hochgezogenen Augenbrauen an.
»Danke. Ich bin es nicht gewohnt, dass jemand . . .« Sie hielt inne, weil sie sich plötzlich vor dem fürchtete, was sie gerade beinahe preisgegeben hätte. Sie hatte gelernt, allein mit ihren Problemen fertig zu werden. Lisa wusste zwar von ihren Zweifeln und Ängsten, aber ihr praktischer Ratschlag, sich auf ihre vergangenen Errungenschaften und ihre harte Arbeit zu konzentrieren, um ihre Unsicherheit zu bekämpfen, reichte nie so weit bis in den dunklen Ort in ihrem Inneren, wo ihre Panik lauerte. Diesen Ort hatte Shara gerade berührt, scheinbar ohne große Anstrengung.
»Ich weiß«, antwortete Shara mit ähnlich sanfter Stimme. »Ich auch nicht. Aber ich gehe davon aus, dass du dasselbe für mich tun würdest.«
Jessa nickte, aber sie musste auf einmal Distanz zwischen sich und Shara bringen, ehe sie etwas sagte oder tat, das sie beide bedauern würden. »Ich gehe und rufe den Chauffeur.«
»Und ich ziehe mir lieber ein Paar Schuhe an«, murmelte Shara. Sie war sich der Intimität dessen bewusst, was gerade zwischen ihnen vorgefallen war, und flüchtete aus dem Raum, noch bevor Shara den Telefonhörer abgenommen hatte.
Kapitel 15
A ufregung und Erwartung durchdrangen die Luft in der Avery Fisher Hall. Es gab gemurmelte Konversationen und die Musiker stimmten ihre Instrumente oder übten, und Shara stand im Eingang, um das alles auf sich einwirken zu lassen. Sie holte tief Luft und atmete den leicht exotischen Geruch von Hunderten von teuren Parfums ein, die sich in der kühlen, gefilterten Luft zu einem einzigen vermischten – dem Duft nach Privilegien. Karten für die Vorstellung waren seit Monaten ausverkauft, was Lisa zu dem Scherz verleitet hatte, dass dies mehr ein Rockkonzert als ein klassisches war. Allerdings waren dies keine Rockkonzert-Zuschauer.
Die Leute im Parkett waren im Durchschnitt älter, als Shara erwartet hatte, und sie waren tadellos herausgeputzt. An den Frauen funkelte so viel dezenter Diamantenschmuck, dass es einem Versicherungsangestellten wochenlang Alpträume beschert hätte. Trotz der Hitze auf den Straßen schienen die Männer in ihren makellosen Abendanzügen davon unberührt. Shara sah sich nicht in Gefahr, hier erkannt zu werden. Es bedurfte hierzu nicht einmal ihrer dunkelgefärbten Haare. Da Gegen den Staat seit über zwei Jahren nicht mehr in den Kinos gespielt wurde und ihre letzten Filme eher Massenware gewesen waren, bezweifelte sie, dass sie in der Menge viele Fans finden würde.
Die Entscheidung, das erste Mal ein von Jessa dirigiertes Konzert vom Zuschauerraum aus zu erleben und nicht von einem Stehplatz hinter der Bühne, war ihr nicht leicht
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