Special - Zeig dein wahres Gesicht
war hier eine Ablenkung angesagt.
Tally machte ein wütendes Gesicht. „Sie nennen mich dumm?“
Sie hob einen Fuß, traf Dr. Cable im Magen und nahm ihr damit den Atem.
Die anderen Specials reagierten sofort, aber Tally hatte sich schon in Bewegung gesetzt und jagte zu der Stelle, wo die Nadel zu Boden gefallen war. Sie landete mit dem Fuß auf den Überresten und zertrat sie so energisch, wie sie nur konnte. Dann setzte sie ihre Bewegung mit einem Tritt fort, der auf der Wange ihres nächsten Verfolgers landete. Sie sprang auf die erste Sitzreihe und lief über die Rückenlehnen, ohne den Boden zu berühren.
„Agentin Youngblood“, rief ein weiterer Special. „Wir wollen dir nicht wehtun!“
„Ich fürchte, das werdet ihr müssen!“ Sie sprang zurück zu der Stelle, wo der erste Special lag. Die Tür zum Hörsaal wurde aufgerissen und ein Schwarm grauer Seidenuniformen stürmte in den Raum.
Tally sprang neben dem niedergegangenen Special auf den Boden und landete abermals auf den Überresten der Injektionsnadel. Ein weiterer Special in Kampfmontur traf mit der Faust ihre Schulter und Tally fiel rückwärts in die erste Sitzreihe. Sie stieß sich ab und warf sich gegen ihn, ohne auf die anderen Specials zu achten, die jetzt über sie hereinbrachen.
Einige Sekunden darauf lag Tally mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden, die Arme unter ihrem Bauch gefangen. Sie zappelte und zerdrückte die letzten Reste der Injektionsnadel unter sich zu Staub. Dann versetzte ihr irgendwer einen Tritt zwischen die Rippen und alle Luft wich mit einem Grunzen aus ihrer Lunge.
Weitere Specials fielen über Tally her, sie hatte das Gefühl, einen Elefanten auf dem Rücken zu haben. Das Licht im Saal wurde trübe; Tally merkte, dass sie an den Rand ihres Bewusstseins gedrückt wurde.
„Schon gut, Doktor“, sagte ein Special. „Wir haben sie jetzt unter Kontrolle.“
Cable gab keine Antwort. Tally verdrehte den Hals, um sie anzusehen. Dr. Cable krümmte sich und rang noch immer um Atem.
„Doktor?“, fragte der Special. „Stimmt was nicht?“
Lasst ihr einfach Zeit, dachte Tally. Dann wird es ihr viel, viel besser gehen ...
Zerfall
Tally sah alles von ihrer Zelle aus geschehen.
Die Veränderungen setzten zuerst langsam ein. Einige Tage lang wirkte Dr. Cable wie immer unverändert psychotisch, wenn sie zu Besuch kam und auf arrogante Weise Auskunft über die Geschehnisse in Diego verlangte. Tally kam ihr da gern entgegen und saugte sich Geschichten über den Zusammenbruch des neuen Systems aus den Fingern. Derweil wartete sie auf Anzeichen dafür, dass das Heilmittel wirkte.
Aber Jahrzehnte der Eitelkeit und der Grausamkeit verflüchtigten sich nur langsam, und die Zeit selbst schien in den vier Wänden von Tallys Zelle zum Stillstand zu kommen. Schlitzer waren nicht für das Leben zwischen Mauern gemacht, schon gar nicht für das in winzigen Kammern, und Tally musste ihre Kraft vor allem darauf konzentrieren, nicht verrückt zu werden. Sie starrte verzweifelt die Zellentür an und kämpfte gegen den Zorn, der in Wellen in ihr aufstieg, und immer widerstand sie dem Drang, sich mit Fingernägeln und Zähnen aufzuschlitzen.
Auf diese Weise hatte sie sich für Zane umgepolt - in dem sie sich nicht mehr geschnitten hatte - und da durfte sie jetzt ihrer Schwäche nicht nachgeben.
Am schwersten wurde es, wenn Tally darüber nachdachte, wie tief unter der Erde sie war, zwölf Stock abwärts. Die Zelle kam ihr vor wie ein im Boden verscharrter Sarg. Als sei Tally schon tot, werde aber noch im Grab durch irgendeine tückische Erfindung Dr. Cables bei Bewusstsein gehalten.
Die Zelle erinnerte sie daran, wie die Rusties gelebt hatten – die kleinen, überfüllten Zimmer in den leblosen Ruinen, die überbevölkerten Städte wie in den Himmel ragende Gefängnisse. Jedes Mal, wenn die Tür geöffnet wurde, rechnete Tally damit, jetzt unters Messer zu kommen und als Blubberkopf oder als eine noch psychotischere Form von Special wieder aufzuwachen. Sie freute sich fast, wenn es Dr. Cable war, die sie abermals befragen wollte - alles war besser, als allein in dieser leeren Zelle zu sitzen.
Und endlich sah sie, dass das Heilmittel zu wirken begann … langsam. Nach und nach kam Dr. Cable ihr weniger selbstsicher vor, weniger entscheidungsfreudig.
„Sie erzählen allen meine Geheimnisse!“, murmelte sie eines Tages und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare.
„Wer denn?“
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