SPEED - Auf Der Suche Nach Der Verlorenen Zeit
übersteuert ist, scheint hier heute Abend niemanden zu stören. Seiwert trägt eins dieser schmalen Headsets mit Mikrofon und erinnert mich daher an die Gameshowmoderatoren bei Sat.1 oder Pro7.
Er rät dem Publikum, die kleinste Zeiteinheit, den Tag, sorgfältig zu planen. Das sei uraltes Erfolgswissen, das schon die alten Römer vor Tausenden von Jahren gepredigt hätten: »Ich weià nicht, ob jemand von Ihnen das kleine oder groÃe Latrinum [sic!] hat«, fährt Seiwert fort. Das Publikum lacht laut über Seiwerts Gag, so wie es insgesamt groÃen Gefallen zu finden scheint an den Entertainerqualitäten seines Zeitcoachs. »Carpe diem, nutze den Tag, plane den Tag, und wenn es einmal nicht funktioniert hat, kann man jeden Tag neu beginnen. Wann planen Sie Ihren Tag? Am Abend vorher, warum? Damit Ihr UB, Ihr Unterbewusstsein, die Gelegenheit hat, das Ganze zu verinnerlichen.«
Endlich mal eine Regel, eine Handlungsanweisung. Darauf hatte ich gewartet. Ich schreibe mir also auf: »Regel Nummer eins â den Tag planen«, am besten am Vortag. Hab ich in den vergangenen zwanzig Jahren immer wieder versucht, hat aber nur selten hingehauen.
Die Königsdisziplin des Zeitmanagements sei eine glasklare Prioritätensetzung, fährt Seiwert fort. Es sei eine Lebenslüge, die immer wieder verbreitet würde, wenn jemand behaupte, er habe keine Zeit. Warum? Weil wir doch alle gleich viel Zeit hätten. Wenn jemand behaupte, keine Zeit zu haben, hieÃe das in Wirklichkeit, man habe keine Zeit, weil einem anderes eben wichtiger sei. Mein Problem ist also nichts weiter als eine Lebenslüge? Ein wenig deprimiert über diese Diagnose folge ich dem Vortrag weiter.
Ich habe das Gefühl, dass die Leute im Raum Seiwert an den Lippen hängen. Einige filmen die Veranstaltung mit den Kameras ihrer Smartphones. Seiwert empfiehlt uns, den Tag in verschiedene Abschnitte zu teilen, mit Phasen fürs konzentrierte Arbeiten und Phasen für die Erledigung von Alltagsarbeiten. Es ist die Rede von A-, B-, C- und D-Aufgaben, vom After-Lunch-Koma, Biorhythmus und vom power nap (»Tagnickerchen, Kraftschlaf«). » Never Check E-Mails in the Morning heiÃt ein bekannter Ratgeber aus den USA, und da ist im Grunde genommen alles Wesentliche enthalten«, erklärt Seiwert uns, seinem Publikum, überzeugend.
Er spickt seinen launigen Vortrag immer wieder mit kleinen Geschichten und Beispielen. Dabei fällt auf, dass diese Geschichten entweder von irgendwelchen extrem hochkarätigen Experten aus Amerika oder von weltbekannten und wichtigen Konzernen handeln, an deren Effizienz man sich ein Beispiel nehmen solle. So wie die folgende: Bei den meisten Firmen habe es sich eingebürgert, dass Meetings immer von 10.00 Uhr bis zur Mittagspause gingen, weià Seiwert zu berichten. Warum das so sei und ob man etwa weniger erreiche, wenn man erst um 11.00 Uhr anfinge und trotzdem nur bis zur Mittagspause tagte, will er dann vom Publikum wissen. »Im Gegenteil: Sie kommen schneller auf den Punkt. Und ich möchte noch einen Schritt weitergehen. Bei einem groÃen Sportwagenhersteller in Stuttgart-Zuffenhausen, der nicht näher benannt werden soll«, sagt Seiwert vielsagend grinsend, »habe ich Stehungen statt Sitzungen eingeführt. Dazu braucht man nur einen Bistrotisch, auf den man den Kaffeebecher oder seine Akten legen kann. Was denken Sie, um wie viel sich diese Besprechungen verkürzt haben, nachdem sie ausschlieÃlich im Stehen stattgefunden haben? Um achtzig Prozent.«
Das Publikum spendet Beifall. Ein Mann aus dem Auditorium, der die richtige Antwort gerufen hat, erhält zur Belohnung einen neuen Ratgeber Seiwerts. Und der setzt einen drauf. Bei der Hotelkette Ritz-Carlton sei man noch zeiteffizienter als bei Porsche. Dort treffe man sich zu »Meetings« einfach im Gang. Kein Besprechungsraum, kein Bistrotisch, einfach in einem Gang im rechten Winkel. Jeden Morgen um 9.00 Uhr würden so in jedem Hotel, ob im Housekeeping oder in der Verwaltung, die wichtigsten Punkte durchgesprochen und den Mitarbeitern die zwanzig Dienstleistungsregeln der Kette eingetrichtert. »Und innerhalb dieser sieben, acht Minuten, die so ein Meeting dauert, sind alle auf die gleichen Prioritäten fokussiert, und dann gehen alle sofort ihrer Arbeit nach und verschwenden so keine Zeit.« Völlig einfach, völlig simpel sei das, betont Seiwert, und nicht verboten, es
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