SPEED - Auf Der Suche Nach Der Verlorenen Zeit
bizarr aus. Das Problem ist klar. Wir laden uns alle zu viele Aufgaben auf.
Aber Seiwert wäre nicht Seiwert, wenn er nicht auch hier eine Lösung für sein geplagtes Publikum parat hätte. Wenn man sich auf die wichtigen Dinge des Lebens konzentriere, so Seiwert, würden die anderen alle von allein verschwinden, und man habe genug Zeit. Zum Beweis seiner steilen These führt er einen weiteren Zaubertrick vor. »Wir müssen uns auf die wirklich wichtigen Dinge konzentrieren. Also das, was ich âºChampagneraufgabenâ¹ nenne.« Er nimmt ein Sektglas, das mit Wasser gefüllt ist, und schüttet das Wasser in einen Pappbecher von McDonaldâs. »Das Wasser gieÃe ich nun hier hinein, weil es im Moment nicht so wichtig ist. Und jetzt geht es darum, meine mentalen Kräfte zu aktivieren und mich auf meine wirklich wichtigen Prioritäten zu konzentrieren. Dazu brauche ich natürlich ein magisches Tuch â¦Â«
Spätestens jetzt komme ich mir vor wie bei David Copperfield. Seiwert zückt tatsächlich ein Zaubertuch, deckt es über den Becher und schlieÃt die Augen.
»Ich konzentriere mich jetzt mental auf meine wirklich wichtigen Lebensprioritäten, damit die unwichtigen Dinge des Alltags von allein verschwinden. Jetzt brauche ich etwas Frauenpower, Claudia, bitte mal pusten von da unten. Okay.«
Frau Enkelmann, die mit der Föhnwelle und dem Goldschmuck, kommt und pustet in der Manier einer Assistentin oder eher eines Playboy-Bunnys.
»Danke schön, und wenn ich auf die wirklich wichtigen Dinge fokussiert bin â¦Â«, Seiwert dreht den Becher um, und siehe da, es tropft kein Wasser mehr raus, »sind die dringenden, aber unwichtigen Dinge verschwunden. Danke schön.«
Ich bin platt und versuche die Aussage dieses kleinen Zaubertricks zu entschlüsseln und auf mein Problem zu übertragen. So richtig gelingt es mir nicht. Was sind jetzt die Champagneraufgaben und wieso sollen die anderen dann verschwinden? Wie, was, wo und warum? Das Leben als Zaubertrick? Kann dieser Mann etwa mein Zeitproblem wegzaubern? Hä? Das Publikum klatscht. Soll ich jetzt auch einfach mitklatschen? Ich bin, mal wieder, verwirrt. Gelinde gesagt.
Jetzt wird ein kurzes Filmchen gezeigt. Es ist wirklich sehr kurz. Es zeigt eine Katze, die mit einem Bambi-Reh schmust. Am Schluss gesellt sich noch ein Hase dazu. Das Ganze ist mit Louis Armstrongs Klassiker »What a Wonderful World« unterlegt. Auch der Film scheint dem Publikum sehr zu gefallen. Und ich fange langsam an, mich zu ärgern. Ãber Seiwerts Zaubershow und über mich selbst. Warum bin ich nur hierher gefahren?
Und über das Publikum, das mir irgendwie »gebrainwasht« vorkommt. Es frisst dem Zeitcoach aus den Händen, so oberflächlich und teils unlogisch seine Ausführungen auch sind. Das Ganze hat was von einer Sektenveranstaltung. Oder bin ich nur eine ewig rumnörgelnde SpaÃbremse, die diese »gesunde Mischung« aus Lebenshilfe, Unterhaltung und Humor einfach nicht versteht?
»Ich möchte Ihnen noch ein kleines Nutzangebot machen«, sagt Seiwert dann. Endlich, denke ich. Vielleicht habe ich die Veranstaltung zu Unrecht vorschnell abgekanzelt. »Auf Ihrem Platz finden Sie eine kleine, rote Karte. Und wenn Sie mögen, schicke ich Ihnen jede Woche einen kleinen Life-Balance-Tipp zu, und da ich weiÃ, dass viele wenig Zeit haben, müssen Sie den nur eine Minute lesen, sind danach aber eine Woche inspiriert. Drehen sie einfach die Karte rum, schreiben links oben in das rote Kästchen Ihre E-Mail-Adresse, und werfen Sie sie drauÃen in einen der beiden Sektkübel hinein.«
Zum Abschied führt unser Coach noch einen Zaubertrick vor, bei dem er diesmal buntes Wasser in eine Zeitung und von da wieder in verschiedene Sektgläser schüttet. Verstanden habe ich die Aussage des Tricks nicht. Hat wohl wieder was mit Champagneraufgaben und Lebensprioritäten zu tun, und ach ja, und in dem Wort »Zeitung« stecke ja »Zeit« auch irgendwie drin. Dann verbeugt sich Seiwert tief vor dem hochverehrten Publikum, und das Ganze ist zu Ende.
Bis zum nächsten Vortrag mit dem Titel »Die 5 Schlüssel zum Erfolg. Die Macht des Unterbewusstseins« gibtâs eine kleine Pause und drauÃen in der Lobby Bockwurst, Pudding und Kaffee. In der Pause reiÃen die Seminarteilnehmer Seiwert seine Bücher und DVDs wieder fast aus den Händen und lassen
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