SPEED - Auf Der Suche Nach Der Verlorenen Zeit
Es ist eine Berghütte für Wanderer und Bergsteiger auf 1650 Metern Höhe, oberhalb von Klosters. Um dort hinzukommen, kurven wir über ziemlich schmale und steile Feldwege und kleine Holzbrücken, dem Lauf des reiÃenden Gebirgsbachs folgend, den Berg hinauf. Ein ums andere Mal halte ich den Atem an und hoffe, dass wir nicht von den extrem schmalen Wegen abkommen und gleich in der Schlucht liegen. Eine halbe Stunde später sitze ich Rudi â er hat mir inzwischen das Du angeboten â in der Küche des Gemsli gegenüber. DrauÃen regnet es nun. Der letzte Schnee ist hier oben erst vor ein paar Tagen getaut. So früh in der Saison verirren sich nur wenige Wanderer hierher. Der Gastraum des Gemsli ist noch leer. Was er hier treibt und wie sein neues Leben aussieht, will ich von Rudi wissen.
»Ich bin quasi gerade in Lehre. Ich schäl Kartoffeln, hacke Holz und gehe überall dort zur Hand, wo ich gebraucht werde. Dabei lerne ich dann hoffentlich mit der Zeit, wie man eine Berghütte betreibt. Das werde ich noch den ganzen Sommer über machen. Und nächstes Jahr will ich die Hütte dann zusammen mit meiner Freundin übernehmen und hier selbst Hüttenwart sein und Gäste empfangen.«
Man sieht, dass Rudi in seinem Leben noch nicht viele Kartoffeln geschält hat. Obwohl er sich sichtlich Mühe gibt, ist er dabei noch ein wenig ungeschickt. Vor mir sitzt ein braungebrannter und gutaussehender Mann, Ende vierzig, dunkle wellige Haare, Typ Schwiegersohn, den man eher für einen Flugkapitän oder Manager hält als für eine Küchenhilfe. Das labbrige graue Sweatshirt will nicht so recht zum Rest der Erscheinung passen.
»Wenn du Glück hast, hast du ein paar Freunde, die dir sagen, wenn du auf dem besten Weg bist, ein Arschloch zu werden. Die hatte ich damals, Gott sei Dank, aber ich habe auch selbst gemerkt, dass ich mich verändert hatte. Durch den steigenden Zeitdruck hat man immer weniger Zeit, auf andere einzugehen. Man konzentriert sich immer mehr auf die eigene Person, und am Ende kreist dann alles nur noch um einen selbst. Und da hab ich es gemerkt. Ich muss raus aus meinem alten Leben.«
Sein altes Leben war sehr leistungsorientiert und spielte sich vor allem in Hotels, Flugzeugen und in den Vorstandsetagen von Banken und groÃer Unternehmen ab. Rudi hat eine Bilderbuchkarriere hinter sich. Das Abitur schloss er als Jahrgangsbester ab, was ihn aber nicht besonders glücklich machte. Und so blieb es auch im weiteren Verlauf seiner Karriere. Die groÃen Ziele, die er meist als Bester erreichte, befriedigten ihn nie lange. Neue, gröÃere Ziele mussten her und erreicht werden. Rudi war ein Extremjobber in jeder Hinsicht. Seine Arbeitszeiten waren extrem, aber auch sein Ehrgeiz und seine Ambitionen, »möglichst schnell die nächste Stufe, die nächste Beförderung zu erreichen und am Ende möglichst hoch hinauszukommen«. Schneller, höher, weiter. Das war Rudis Lebensprinzip. Nach dem BWL-Studium in München arbeitete er zuerst bei einer groÃen amerikanischen Unternehmensberatung. Daneben machte er den MBA an der privaten Elite-Uni INSEAD. »Mit diesem Elitezertifikat und Blankoscheck in der Hand« wechselte er ins Investmentbanking zur Schweizer Bank UBS. Danach war er acht Jahre bei der Deutschen Bank, bevor er in die Führungsetage der US-Investmentbank Lehman Brothers wechselte. Bei all seinen Stationen war er für Unternehmenskäufe zuständig. Im Fachjargon der Finanzwelt: Mergers and Acquisitions.
Rudi war in seinem früheren Leben das, was man eine »Heuschrecke« nennt.
Und er war berufsgemäà ein radikaler Beschleuniger. Als Unternehmensberater und Investmentbanker wurde er von Unternehmenschefs oder deren Besitzern geholt, um im Namen der Effizienzsteigerung Firmen zusammenzuführen, dichtzumachen, zu kaufen oder zu verkaufen. Und um als Externer in aller Radikalität die MaÃnahmen durchzusetzen, die sich die internen Manager nicht trauten. Das hieà in der Regel: Abbau von Arbeitsplätzen, SchlieÃung von Werken. Für ihn war das kein Problem, er war danach ja raus aus dem Unternehmen.
Das kommt mir doch irgendwie bekannt vor. Ich muss direkt an mein kurzes Treffen mit Antonella Mei-Pochtler, der Unternehmensberaterin, denken.
Ich fühle mich ein wenig komisch, einem Ex-Investmentbanker, der vor kurzem noch mit Milliarden jongliert hat, beim
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