SPEED - Auf Der Suche Nach Der Verlorenen Zeit
System entstanden, dessen Treibstoff ständiger Wettbewerb und Profitgier ist. Und Politiker, Wissenschaftler und Ãkonomen tun so, als sei die ständige Beschleunigung so etwas wie ein Naturgesetz, zu dem es absolut keine Alternative gäbe. Als lieÃen sich gesellschaftliche, ökonomische und ökologische Probleme nur durch ein Mehr an Beschleunigung, ein Mehr an Wachstum lösen. Obwohl genau das die Menschen auf Dauer entweder ausbrennt oder überflüssig macht. Und am Ende auch noch den Planeten zerstört. Keine besonders ermutigende Perspektive. Ein minimalinvasiver Kollateralschaden sieht auf jeden Fall anders aus.
Aber wie viel Tempo ist eigentlich gut für uns? Und wie sieht es überhaupt aus, das gute Leben? Nachdem mich die Frage nach den Ursachen der Beschleunigung zu deren Schrittmachern geführt hat und ich erkennen musste, dass von dieser Seite kein Ausweg aus dem sich selbst antreibenden Teufelskreis der Beschleunigung zu erwarten ist, verbinden sich meine Hoffnungen nun vor allem mit den möglichen Alternativen zum Hamsterrad. Auf den nächsten Etappen meiner Suche nach der verlorenen Zeit will ich Menschen treffen, die für sich oder die Gesellschaft eben nach solchen Alternativen zum beschleunigten Leben suchen oder sie vielleicht sogar schon gefunden haben.
So wie Rudolf Wötzel. Rudolf Wötzel hat lange ein Leben auf der Ãberholspur geführt, war ein Leistungsjunkie und hat rasend schnell Karriere gemacht. Bis er ganz plötzlich auf die Bremse getreten und alles hingeworfen hat. Heute versucht er in den Schweizer Bergen neu anzufangen.
Ich fahre im Nachtzug von Berlin nach Basel. Das habe ich schon seit Jahren nicht mehr gemacht. Ich genieÃe die Zeit, die ich unterwegs bin, bestelle mir bei der netten Schaffnerin erst einmal ein Bier und glotze einfach aus dem Fenster. Ich wusste gar nicht mehr, wie angenehm diese langsame Art des Reisens sein kann. Abgesehen davon, dass ich mir so die nervigen Kontrollen und die Warterei am Flughafen erspare und der Umwelt ein paar Tonnen CO 2 .
Um kurz vor 8.00 Uhr komme ich morgens ausgeruht in Basel an und suche erst mal nach dem Bahnhofsrestaurant, das mir seit Kindertagen in Erinnerung ist. Es war ein schönes und riesengroÃes Bahnhofsrestaurant, in dem die Zeit irgendwie stehen geblieben zu sein schien, und es hat sich irgendwie eingebrannt in mein Gedächtnis. Ob es noch da ist? Ich bin erleichtert, als ich sehe, dass es das Restaurant noch gibt. Es musste inzwischen zwar die Hälfte seiner Fläche an einen Supermarkt abgeben, aber die andere Hälfte existiert noch.
Ein älterer Kellner in klassischer Kellnerweste und Schürze, wie man ihn sonst wohl nur noch aus alten Filmen kennt, serviert mir einen Schümlikaffee und ein Croissant. Ich fühle mich gut und â zumindest für kurze Zeit â überhaupt nicht gestresst.
Wieder kommen Kindheitserinnerungen hoch. Ich fahre gern Zug, und ganz besonders mag ich die Schweizer Eisenbahn, was wohl daran liegt, dass mein Vater sie so liebte und regelmäÃig mit meinen Brüdern, meiner Mutter und mir Schweizer Bahnstrecken abfuhr. Es sind schöne Erinnerungen an eine Zeit, in der es irgendwie noch nicht so hektisch zuging wie heute â zumindest in meiner Erinnerung. Zugfahren in der Schweiz, das allein fühlt sich für mich schon an wie der erste Schritt zur Entschleunigung.
Eine gute Stunde und ein Frühstück später geht es von Basel weiter über Chur und von da mit der Rhätischen Bahn nach Klosters im Schweizer Kanton Graubünden. Hier steige ich an einem malerischen kleinen Bahnhof aus Holz aus und rufe Rudolf Wötzel an. Erst jetzt realisiere ich, dass ich fast eine Stunde Verspätung habe. Meine Reise in die entschleunigte Welt geht ja gut los, denke ich. Zum Glück erreiche ich Wötzel noch auf seinem Handy.
»Ich hole Sie gleich ab. Und dann können wir gleich hoch zum Gemsli fahren«, sagt er.
Der Bahnhof von Klosters sieht aus wie aus einer Spielzeugwelt. Hier kann man es aushalten, ist mein erster Gedanke. Es ist Mitte Juni, der Schnee in den Bergen hat gerade angefangen zu tauen. Die Sonne versucht sich vergeblich durch die dicken Regenwolken zu kämpfen. Nach einer halben Stunde fährt Rudolf Wötzel in einem relativ neuen Audi-Kombi vor.
Das Gemsli, von dem Wötzel am Telefon gesprochen hat und zu dem wir jetzt fahren, soll bald sein neuer Lebensmittelpunkt werden.
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