SPEED - Auf Der Suche Nach Der Verlorenen Zeit
entsprechend reagieren muss und dessen Leben auch durch die eingehenden Mails strukturiert wird. Man sitzt da wie ein Zirkusdirektor und kann sein Team fernsteuern. Das hat eine gewisse Faszination der Macht, und die kann süchtig machen. Und es bekommt eine Eigendynamik.«
Als teuer bezahlter Dienstleister war Rudi in seinem alten Leben aber auch selbst immer abhängig vom jeweiligen Auftrag, den er bearbeitete. Er musste sich rund um die Uhr für den entsprechenden Kunden verfügbar halten, auch am Wochenende oder nachts arbeiten. Teilweise bei mehreren parallel laufenden Projekten. Ãber Jahre. Nach ein paar Jahren merkte er, dass ihm das an die Substanz ging.
»Auch das viele Reisen. Ich war nur noch am Hin-und-her-Jetten. Mein Leben war getaktet durch Zeitvorgaben von Meetings, von Chefs, von Fliegern. Und der Taktgeber war mein BlackBerry. Das Privatleben musste immer zurückstecken. Aber ehrlich gesagt, hat mir das nichts ausgemacht. Einmal saà ich zum Beispiel mal mit meiner damaligen Freundin in einem Restaurant am See beim Abendessen. Da ruft der Chef an und sagt: âºDu, am nächsten Montag geht ein Projekt in Brasilien los, ich brauche dich da für ein Jahr.â¹ Ich habe es nicht mal mit der Freundin diskutiert. Es war für mich selbstverständlich, dass ich nach Brasilien gehe, weil es eine Supermöglichkeit für die Karriere war. Die Beziehung ging dann natürlich kaputt.«
Und wenn man selbst so gepolt sei, dann erwarte man das mit der Zeit auch von anderen, sagt Rudi nun doch ein bisschen reumütig. Topmanager und -banker hätten oft Probleme, mit dem »Normalo« umzugehen.
»Wenn der noch bestimmte Ansprüche ans Leben hat, die man selbst längst nicht mehr kennt, zum Beispiel eine Familie zu haben, dann ertappt man sich dabei, diese Leute als Bremsen zu empfinden und sie geringzuschätzen.«
Rudi hat keine Zeit für eine Familie gehabt, und das nagte auch zunehmend an ihm. Was in seinem alten Leben aber nicht etwa dazu geführt hat, dass er Verständnis für Mitarbeiter mit Kindern aufbrachte. Im Gegenteil. »Man denkt, jeder müsse doch so gestrickt sein wie man selbst. Wenn ich bereit bin, rund um die Uhr 24 Stunden zu arbeiten, dann muss das gefälligst der Kunde oder mein Mitarbeiter, oder wer auch immer, auch tun. Und so werden Leute, wie ich einer war, dann auch oft â wie soll ich sagen? â schwierig im Umgang. Vorsichtig formuliert.«
Ich bin erstaunt darüber, dass Rudi heute eine so klare und selbstkritische Sicht auf solche Episoden seiner Vergangenheit hat. Auf der anderen Seite erzählt er diese Geschichten, als seien sie nicht Teil seiner, sondern die einer fremden Biografie.
Er ist inzwischen dazu übergegangen, unter Anleitung der Hüttenwirtin eine Vesperplatte mit Schinken, Käse und Silberzwiebeln anzurichten, die Spezialität des Hauses, das »Gemsli-Plättli«. Er macht das so konzentriert, als würde er gerade die höchstdiffizile feindliche Ãbernahmestrategie eines DAX-Unternehmens austüfteln. Dinge einfach mal so spontan zu machen scheint ihm noch immer nicht zu liegen. Als er fertig ist, präsentiert er stolz sein Werk und greift unseren Gesprächsfaden wieder auf.
»Man hat ja auch kaum Möglichkeiten, das eigene Tun zu hinterfragen oder von auÃen mit Kritik konfrontiert zu werden, weil man sich in einer Art Glasglocke bewegt, in der man nur auf seinesgleichen trifft. Auf Banker, hochbezahlte Anwälte, andere hochgezüchtete Spezialisten. Auch das soziale Umfeld passt sich irgendwann an. Man rekrutiert dann seine Freundschaften, seine Bekanntschaften aus diesem Umfeld. Man baut sich eine Parallelwelt auf«, sagt Rudi und klingt dabei irgendwie traurig. Als glaube er, das richtige Leben verpasst zu haben. Irgendwie tut er mir jetzt sogar ein bisschen leid. Denn es klingt wirklich danach, als habe er das tatsächlich und als sei er in den letzten zwanzig Jahren zudem meist verdammt einsam gewesen.
»Es ist eine Parallelwelt, die einem rechtfertigt, warum man das eigentlich alles macht. Zu dieser Parallelwelt gehört die Abschottung, gehört es, in irgendwelchen Vierteln zu wohnen, wo eben auch Gleichgesinnte leben, und dass man nur noch mit dem Taxi oder der Limousine durch die Arbeiterviertel zum Flughafen fährt, man steigt dann nicht mehr aus. Und das ist es, glaube ich: Man steigt nicht mehr aus an anderen Orten, wo man
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