SPEED - Auf Der Suche Nach Der Verlorenen Zeit
Kartoffelschälen zuzusehen. Und irgendwie will das Bild immer noch nicht so recht zusammenpassen: Rudolf Wötzel beim Kartoffelschneiden. Sein altes Leben habe sehr lange eine gewisse Strahlkraft auf ihn ausgeübt, sonst hätte er es auch nicht fast zwanzig Jahre lang so gelebt, gibt Rudi zu. Das Gefühl, zur Elite zu gehören und mit relativ jungen Jahren viel gestalten zu können, viel Eigenverantwortung zu haben, keinen langweiligen Job, sondern einen, wo man einflussreiche Menschen kennenlernt, übe auf viele in diesem Beruf eine groÃe Faszination aus. Auch bei ihm sei es so gewesen.
»Vorstandsvorsitzende oder Eigentümer von groÃen Unternehmen sind schillernde und faszinierende Persönlichkeiten, und diesen Machtmenschen mal persönlich zu begegnen macht SpaÃ. Man hat einfach das Gefühl dazuzugehören. Tja, und auch das Gefühl, voranzukommen und Karriere zu machen, ist natürlich toll. Die Streicheleinheiten, die man dann bekommt und die man sich gern abholt in Form von Beförderungen, von Titeln, von Boni sowieso«: Das sei schon eine Zeit lang spannend gewesen.
Gemessen an den Erwartungen, die er damals an sein Leben gehabt habe, führte Rudi ein interessantes und schönes Leben, sagt er heute rückblickend. Ein Leben der gehobenen Luxusklasse, in Fünf-Sterne-Hotels. Ihm hat es geschmeichelt, wenn die Stewardess ihn mit Namen begrüÃte, und es war damals für ihn und seine Kollegen sehr wichtig, alle Topkarten der wichtigen Airlines zu besitzen, die einem den Zugang zu den exklusiven Lounges der Fluglinien erlaubten.
»Das ist natürlich bescheuert«, gibt er heute zu. »Da kann ich jetzt drüber lachen, aber in dem Moment, wo man ständig gestresst durchs Leben hechelt und sonst keine Streicheleinheiten bekommt, freut man sich, wenn man so eine persönliche Ansprache im Flieger hat und auf den Flughäfen der Welt hofiert wird. Man denkt, man hat es verdient.« Heute sei ihm klar, dass all das Köder seien, an denen man sich leicht festbeiÃen könne â und verschlucken. »Aber eine sehr lange Zeit hat es sich sehr gut selbst getragen. Das System versucht, dich bei Laune zu halten. Aber je länger ich da drin war, desto mehr hab ich das auch als Kompensation empfunden, für etwas, was mir eigentlich gar nicht am Herzen liegt und was mich nicht glücklich macht«, sagt Rudi.
Rudi war das lange egal. Das »machthungrige Arschloch«, als das er sich beschreibt, nahm trotzdem eine Karrierestufe nach der anderen. Ich sitze immer noch am Küchentisch und beobachte Rudi dabei, wie er der Hüttenwirtin zuarbeitet. Dieser groÃgewachsene Mann wirkt dabei fast ein wenig verschüchtert, wie ein Jugendlicher bei seinem ersten Schulpraktikum. Ich versuche mir Rudi als Heuschrecke vorzustellen. Erstaunlicherweise ist das gar nicht so schwer. Irgendwie haben die zwanzig Jahre als Investmentbanker schon ihre Spuren hinterlassen. Auch wenn er das gerne wollte: Sein altes Leben lässt sich nicht von einem auf den anderen Tag vollständig abschütteln. Ich kann zwar nicht genau sagen, was es ist, vielleicht seine makellose Erscheinung, über die auch sein graues schlabbriges T-Shirt nicht hinwegtäuschen kann, seine genauso geschliffene wie bedächtige Wortwahl, irgendetwas an Rudi erinnert immer noch an den Investmentbanker, der er mal war.
Ich frage mich, ob er sich wirklich ganz aus seinem alten, vom Leistungsprinzip geprägten Leben verabschiedet hat oder hier nur mit altbekannter Perfektion eine neue Rolle ausfüllt? Die des erfolgreichen Aussteigers. Es scheint ihm zumindest ein ehrliches Bedürfnis zu sein, über seine Wandlung zu sprechen. Er ist überzeugt davon, sie hat viel damit zu tun, dass er plötzlich begonnen hat, Zeit anders wahrzunehmen.
»Ich war irgendwie süchtig nach diesen Taktgebern, die meinen Tag strukturiert haben. Was am FlieÃband der Montagetakt ist, war bei uns der Takt der eingehenden Nachrichten auf dem BlackBerry, den man nicht mal aus der Hand gelegt hat, wenn man abends mit Kollegen oder der Freundin essen gegangen ist. Immer wieder hat man da draufschauen müssen. Diese ständige Erreichbarkeit, die man von seinen Mitarbeitern einfordert, ist ja auch ein Zeichen der Macht. Wenn man als Manager seinem Team alle fünf Minuten eine E-Mail schickt, weià man ja, dass auf der anderen Seite ein Mitarbeiter sitzt, der nach drei Minuten
Weitere Kostenlose Bücher