Speichelfaeden in der Buttermilch
Marie!
Pensionistenheim Amstetten. Das Ende eines Lebens, in einem Heim am Arsch der Welt. In Ketten mit Tabletten in Amstetten. Ein leeres altes Gesicht spiegelt sich wirr im Bildschirm einer virtuellen Welt. Traurige Gichtfinger tappen furchtsam über Tasten. Matte, müde Augen mühen sich blinzelnd durch die Zeilen einer viel zu neuen Welt. Maria Koppendorfer, wenn du uns hörst, du Seele eines Menschen: aus alt mach neu? Aus alt mach neu, das geht nicht. Aus neu wird alt, aus warm wird kalt, Maria. Soll der Cyberspace dir jetzt den lieben Enkelsohn ersetzen? Da werden Tränen tropfen auf die Tastatur. Wo sind die Menschen? Wo die Freunde, die dir dein Leben fröhlich machten? Maria, du brauchst doch zwitschernde Vögel, du brauchst aufgehende Sonnen, ein kühlender Regenguss, wenn dir heiß ist in deiner Haut, für die du ja nichts kannst, aus der du ja nicht fahren kannst. Die Tür im Altersheim Amstetten, an die nie wer klopft, einzig einmal der Herr von Microsoft zum Installieren und Abkassieren. Und dann? Dann fällt sie zu. Und über allen Rollstuhlkissen ist dann Ruh. Zahnlos im Internet, schwerhörig trotz Real Audio. Darf ich vorstellen: Maria Koppendorfer, Pensionistenheim Amstetten, Zimmer 14. Mach das Licht aus, wenn du gehst, Maria. Wer stürzt zuerst ab, der Computer oder die Menschlichkeit? Nächstenliebe oder »Datei Maria verloren«? Codewort: Einsamkeit. Zimmer an Zimmer, neben Maria Olga, neben Olga Anna, neben Anna Paul, neben Paul Adolf. Und wenn Maria den Chatraum dann für immer verlässt, dann dreht Adolf noch seine bizarren Runden durch die Neonaziseiten, als altes wirres virtuelles Oberarschloch, und Maria sagt »adieu« und »mfg«. Die Schwester drückt das Kissen immer fester dir aufs Gesicht, vielleicht, ich hoffe nicht, ich will nichts unterstellen. Klick auf »Hilfe«. Klick auf »Hilfe«, Maria! Error, Exit, aus der Traum, weggeworfen. Druckerstau im Papierkorb der Gefühle, in Amstetten, Pensionistenheim, wo das Surren des Computers das einzige Lebenszeichen ist. Ein Leben seit 1898, ein Name. Klick auf »Dokument«, gespeichert, abgehakt, keine Links zu irgendwem. Suchprogramm hat nichts gefunden. Suche erweitern sinnlos, zwecklos, klick. Diskettensarg. Kalte Festplatte, an der niemand sitzt. Webmaster goodbye. Maria! Maria, hörst du uns? Maria, Stermann und Grissemann betreten betreten den Raum. Wir sind echt, nicht Lara Grissemann und Dirki Croft, echte Menschen, weißt du? Fleisch und Blut, dein eigen vielleicht! Man weiß es nicht, ich will nichts unterstellen. 1898, viel ist passiert seither. Zwei Jahre warst du alt, Mariechen, als das Jahrhundert sich gewendet, 102 beim zweiten Mal. Lass die Maus aus, Maria. Lass die Maus aus. Leg dich her, erzähl uns von k.-und-k. und FKK , von Breschniew und Thomas Mann, von Schnitzler, Zweig und Alma Mahler. Die Geschichten sind Geschichte. Lass die Maus aus, Maria. Ein Klick in die Vergangenheit, in die Verfangenheit. Wer war's, der sich verfing in deinem Lachen, der Kinder dir geschenkt, die heut zu dir wie Blinde sind? Du denkst manchmal an sie, doch, Alzheimer sei Dank, erinnerst du dich nie. Mach dir's bequem, Maria. Nimm die Zähne raus und lausche deinen eigenen Gedanken, für die du kein Gebiss mehr brauchst. 1898, Zeit der Ritter und der Handwerksleut, Zeit der Huren, Diebe, Räuber, der Allmacht der Fürsten und der Industrie, mittendrin Marie! Zeugin einer Welt aus Lug und Trug, aus Wahrheit, Mut und Handgepäck. Wie oft fuhrst du im Zug, Marie, töff töff, von Danzig bis nach Posen, von Warschau bis nach Prag, von Wien bis nach Salzburg? »Guten Abend, gnä' Frau!«, tönt's noch so in deinen Ohren, Marie? Der hübsche Kellner mit dem schönen Knie, er stieß mit diesem Knie an deins. Ihr wurdet Mann und Frau, 1921, Spätherbst, Vollmond, Liebestaumelei, vielleicht, ich mein, wir wissen's nicht. Komm, lass die Maus aus, Marie. Datenbanken sind in dir, hol die heraus. Aus. Lass die Maus aus, Marie. Aus deinem Herzen. Na, sag, wo hielt der Zug, Maria Koppendorfer, der Zug der Zeit? Das Internet kann dich nicht retten, dein Zug blieb stehen in Amstetten, Verladebahnhof für verlorene Seelen. Nimm die Perücke ab, Maria, und hol aus unsrer Manteltasche ein Fläschchen Gin. Den Tee schütt ins Klosett, und auch das Scheißinternet! Ein Stückchen Schokolade? Ein Zug von Stermanns Zigarette? Erzähl, Marie, erzähl aus deiner Welt! Wie war das, 1941? Fünf Buchstaben: NSDAP . Warst du dabei? Dafür? Dagegen? Was dachtest du?
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