Speichelfaeden in der Buttermilch
Erzähl es uns! Warst du im Widerstand oder, wie die meisten damals, nicht bei Verstand? Und dann, als alles abgebrannt, hast du gelöscht? Mit Wasser oder Tränen? Erzähl es uns, ich deck dich zu, Stermann macht die Kerze an. Komm, wir trinken auf dein Wohl, Marie! Kino, das bewegte Bild, und du, eine bewegte Frau in bewegten Zeiten. Komm, Marie, lach noch einmal über Charly Chaplin, Buster Keaton! Was sagst du, die Hindenburg? Du warst dabei? Im Zeppelin über New York, Neu Amsterdam, du Trümmerfrau? Und zur Musik von Johann Strauß gab's Karotten unterm Weihnachtsbaum. Die Zeit war schwer, dein Leben lang. Und dann die Kinder: Johann, Albert, Clara, ohne Kreißsaal, auf dem Land. Im Kindbett starb dir Albert weg. Suchst du ihn jetzt im Internet? Stichwort »Albert«, Suche negativ. Lass die Maus aus, Marie, lass die Maus aus. Erzähl uns weiter. Lass sie raus, die Maus. Komm, lass sie aus. Koch doch für uns, Marie! Koch, Marie, genau, koch für uns noch einmal Sauerkraut und Eisbein, wie damals einst für deinen Mann, »Eisbein für den Einbein«, sagtest du im Scherz, weil er im Krieg ein Bein verlor, in Weltkrieg Nummer 1, in Nummer 2 verlorst du ihn dann ganz, nicht nur das Bein. Du warst fortan dann ganz allein. Haushalt, Kinder, Mühsal, Elend, voller Mühsal, die Münchner Republik, Revolution war damals schick! Viktor Adler und der Doppeladler, Radler sah man auf den Straßen, Autos manchmal auch. Und die Pferde, sagst du, zogen immer seltener durch die Stadt, dafür, sagst du, in Fleischhauereien, weil auch von Gäulen wird man satt. Steig auf, Maria. Steig auf, steig auf. Steig auf, Maria, ein letztes Mal, und reite mit uns durch die Datenautobahn, log dich ein, in deine eigene Vergangenheit! 1962: du wurdest große Mutter. Johann schenkte dir den Enkelsohn, den Edi. Edi, du weißt schon, der der dich ins Altersheim und um dein Geld gebracht, der heute in der metallverarbeitenden Industrie den Vizechef gibt. Sag mal, Marie, wann hast du dich verliebt?
Lass die Maus aus, Maria, hast es selbst gehört. Lass sie aus und denk an früher. Denk daran, wie es war. Weißt du noch? Wann hast du dich verliebt, ein zweites Mal, du stolze lustige Witwe, du? 1951 in Graz, die Hochzeit 52, Mai, und im August, da war er tot. Ein Blitzschlag hinter der Garage. Das Auto war schon drin, nur er, der Gilbert, biss ins Gras. Du natürlich wieder allein, kummervoll, neue Falten. Wer sollt' es dir verdenken, Marie? Und dann die neue Hüfte und der erste Aufenthalt im Krankenhaus, da war's wie heut, Marie. In deinem Zimmer, Nummer 14, roch's nach Aniskraut, von dir selber angebaut, du Gärtnerin deines Geschicks! Statt deiner Hüfte hattest du Tomaten, Bohnen und das Zwiebelkraut. Mit künstlicher Hüfte zurück zur Natur! Der Drahtesel war dir Begleiter, über Wiesen, über Stock und Stein, durch Wälder, Äcker, Ländereien! Marie, was ist? Wach auf, Marie. Marie, wach auf und reib dir deine Augen, die der Bildschirm ruiniert. Du bist ja ganz downgeloadet, Marie! Musik, Marie, Musik! Wir wollen tanzen! Stermann ist ein Galan und tanzt mit dir den Cha Cha Cha rund ums Krankenbett, cha cha cha …
Jetzt ruh dich aus, Marie, mein Schatz. Ich hol ein Glas mit Wasser dir. Pass auf, trink dein Gebiss nicht mit. Grissemann, was sagt sie? Wie hieß Marias beste Freundin? Friederike, Dirk, so hieß sie. Friederike, gell Marie, du weißt es gut, durch dick und dünn und Pferdestehlen, und weißt du noch, die gemeinsamen zwei Tage in Venedig? Nicht mit Gilbert oder Edi, nein, der Freundin! Zwei Tage Urlaub in 100 Jahren, das ist nicht viel, Maria. Du weißt vielleicht, Maria, heutzutage bucht man zack zack im Internetz, Dom. Rep., all inclusive, alles inklusive, auch das Schlimme. Das ist nicht mehr deine Welt, Maria, in solchem Chatroom kannst du nur verlieren. Was du erzählst, wird niemanden interessieren. Dort musst du sprechen über Modernes, während du doch moderst. Verzeih, Marie, doch ich mein's gut. Sieh nur, Marie, Stermann wäscht sich die Hände. Wie du damals in Unschuld 1972, als Friederike, bei dir zu Besuch, kopfüber von der Terrasse flog. Hinter der Garage kam sie auf, genau dort, wo Gilbert einst der Blitzschlag traf! Marie, gabst du ihr einen Stoß? Nein, Marie, wir wissen, nein. Doch das Jahr in Untersuchungshaft hinterließ Spuren. Deine Warzen wurden mehr, du, 74 Jahre alt, in U-Haft. »Im Zweifel für die Angeklagte«, sagte der Richter. Du kamst frei und feiertest den 75ten allein, die Nase
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