Spekulation in Bonn
auf dem Tisch habe – bis dahin freie Jagd.«
Der Kommissar nahm die oberste Akte vom Stapel und warf sie mit Schwung auf die Schreibunterlage, während Lupus mit einem kurzen Winken das Zimmer verließ. – Doktor Wenders mußte noch eine Weile auf seinen Zwischenbericht warten.
Nach einigen Minuten steckte Fräulein Kuhnert den Kopf durch die Tür. »Dürfte ich für eine Stunde Ihren R4 haben, Chef?« fragte sie und erklärte auf seinen erstaunten Blick hin ihr Vorhaben: »Fischbachs Sekretärin kann vom Büro aus nicht frei sprechen. Also sagt sie ihm, daß sie kurzfristig einen Arzttermin bekommen habe. Wir treffen uns in einer halben Stunde im Wartezimmer in der Ärzteetage. Ich glaube, wir kennen uns sogar flüchtig vom gemeinsamen Herumsitzen beim Mediziner.«
»Kommissarin im Ehrenamt – mein Kompliment«, sagte Freiberg anerkennend. »Hier sind die Autoschlüssel.«
»Danke. Ich bin gespannt, was sich so ermitteln läßt von Frau zu Frau.«
Freiberg stürzte sich mit einer Verbissenheit auf den Aktenberg, als gelte es, das Siebengebirge abzutragen. Er nahm mit Verwunderung wahr, zu welch papierner Struktur sich die Menschen entwickelt hatten, die vor nicht gar zu langer Zeit auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch gesessen und mit ihren Nöten und Aggressionen gekämpft hatten. Jetzt wurden sie zu den Akten geschrieben, auf Wiedervorlage genommen oder wegverfügt. Ihr Schicksal war zu Papier geworden und würde irgendwann im Reißwolf enden.
Zur vollen Stunde nahm Freiberg über die Leitstelle mit Peters Funkkontakt auf. »Schön hier draußen, aber nichts los im ›Dohlenhaus‹«, kam die Meldung schwach über den Verstärker.
»Bleib am Ball und mach es dir bequem. – Wir sind auch nicht viel weiter gekommen. Allerdings führt der Oberrabe einen Alias-Namen; er hat aber ein einwandfreies Alibi für die Tatnacht – und dicke Beziehungen nach oben. Also Vorsicht, bitte. – Klar?«
»Verstanden.«
»Ende«, sagte Freiberg und zog die nächste Akte vom Stapel. Er haßte den Papierkram, doch Beklemmung bereitete ihm der Kampf mit dem geschriebenen Wort nicht. So hatten Studien, Klausuren und zwei Staatsexamen doch einen gewissen Nutzen für den Hauptkommissar.
Ahrens war die Strecke Bonn-Koblenz-Bonn in Rekordzeit gefahren. Freiberg füllte noch die Überstundenmeldung aus, als der Rennfahrer hereingestürmt kam und den Vorgang »Leichensache Rolf Benker – Suizid« auf den Tisch legte. Ein dünnes Heftchen, das wenig wog, obwohl darin das Schicksal eines Menschen verzeichnet war, der sich mit einem Kopfschuß von dieser Welt verabschiedet hatte.
Der Kommissar rief Lupus hinzu, und Ahrens berichtete, daß die Ermittler dieser Sache keine besondere Bedeutung beigemessen hätten. Der MAD habe zwar noch eine Weile untersucht, dann sei aber auch dessen Interesse erloschen. An den Namen Benker habe man sich kaum noch erinnert. Man sei wohl ganz froh gewesen, daß sich der Fall auf diese Weise erledigt habe.
Der Kommissar sah die Akte durch. Ein Angler hatte den toten Rolf Benker vor fünf Monaten bei Remagen gefunden, in Höhe des Brückenpfeilers, der einstmals auf der Westseite des Stroms die Eisenbahnbrücke getragen hatte, die den alliierten Truppen 1945 den Rheinübergang in das Herz des Reichs ermöglichte.
In der Todesbescheinigung des Arztes, der die Leichenschau vorgenommen hatte, war unter der Rubrik II ›Todesart‹ vermerkt: Selbstmord. Beim ›Sektionsbefund‹ hieß es zu V. B. 1: Tod durch aufgesetzten Schuß in die rechte Schläfe.
Im polizeilichen Leichen- und Ermittlungsbericht war zum Kontaktschuß ausgeführt: Stanzmarke infolge der Aufpressung der Haut gegen den Lauf der Waffe und Schmauchhof an der Einschußstelle. Die Schlußfolgerung lautete: »Pulvereinsprengungen und Schmauchspuren an der rechten Hand des Toten, die noch die Pistole FN Kaliber 7,65 umfaßt hielt, müssen als zwingender Beweis für die eigenhändige Tötung angesehen werden.«
Der Kommissar zweifelte keine Sekunde daran, daß dieses Ermittlungsergebnis zutraf.
Einen Abschiedsbrief hatte man weder bei der Leiche noch in der »gepflegten Villa am Stadtrand von Remagen« gefunden. Die Ehefrau des Toten und die sechzehnjährige Tochter konnten sich die Tat nicht erklären.
Interessanter waren die Ausführungen unter der Zwischenüberschrift »Ermittlungen«. Zwar gab es keinen Hinweis auf familiäre oder wirtschaftliche Probleme, jedoch die Vermutung einer krankhaften Depression wegen Schwierigkeiten am
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