SPIEGEL E-Book: Best of SPIEGEL:Ausgezeichnete SPIEGEL-Autorinnen und Autoren des Jahres 2012 (German Edition)
zuerst gehen soll. Wachleute haben ihn aus seiner Zelle geholt, auf die Fähre gebracht, auf diese Insel, ohne Handschellen. Sie haben ihn sich selbst überlassen inmitten roter und gelber Holzhäuser, ein Kirchturm überragt die Baumwipfel. Und das hier soll ein Gefängnis sein.
Er hat Gutscheine bekommen für 500 Kronen, damit er einkaufen kann im kleinen Supermarkt. Auf dem Weg dorthin begegnen ihm Männer. Die Männer grüßen. Raymond Olsen senkt den Blick. Siebenmal war er im Knast; im Knast grüßt man nicht. Raymond kauft Tabak und eine Telefonkarte, tritt in eines der roten Telefonhäuschen, ruft einen Freund an, einfach so.
"Ich bin jetzt auf Bastøy. Ich kann so viel telefonieren, wie ich will. Was macht ihr?"
"Wir saufen uns warm für die Party."
Raymond will fort. Er hat keine Lust auf den liberalsten Knast der Welt, auf dieses norwegische Eiland im Oslofjord, das so klein ist, dass man keine Stunde braucht, es zu umrunden.
Eine einzige Pistole gibt es auf Bastøy, sie steht im Büro des Direktors und ist eine Skulptur aus Bronze.
Arne Nilsen heißt der Direktor, ein schmaler Mann Anfang sechzig, seine Autorität braucht keine Uniform. Woher die Pistole kommt, weiß er nicht, die Pistole war schon immer da.
Der Direktor ist ein Händler, er handelt mit Freiheit. Der Direktor ist ein Visionär, er will, dass die Männer leben wie in einer Dorfgemeinschaft, dass sie Kartoffeln anbauen und ihren Müll kompostieren, dass Wachen und Häftlinge einander respektieren. Eine Kamera im Supermarkt will er nicht, keine Gitter und Mauern, keine verschlossenen Türen.
Sie haben Mörder, Räuber, Drogendealer, Betrüger, Schläger, kleine Diebe. "Wir picken uns nicht die einfachen Fälle heraus", sagt Nilsen. Manche verbüßen ihre gesamte Strafe auf der Insel. Mörder können sich erst bewerben, wenn sie zwei Drittel ihrer Zeit anderswo abgesessen haben. 115 Gefangene leben auf Bastøy, und wer bleiben will, muss arbeiten und sich in eine Wohngemeinschaft einfügen. Wer Alkohol trinkt oder prügelt, fliegt raus.
Die Fähre verkehrt regelmäßig, im Sommer könnte man durchs Meer schwimmen oder ein Boot organisieren, im Winter friert das Meer oft zu. Die Idee ist, dass die Gefangenen trotzdem bleiben. Dass sie noch da sind, wenn gezählt wird, viermal am Tag.
Im Speisesaal sitzt Jorgen Eilertsen, ehemals Drogendealer. "Der Fisch ist gut", sagt Jorgen und zerlegt ein Saiblingsfilet. Jorgen findet alles gut auf Bastøy, denn er weiß, einer wie er kriegt nicht mehr viele Chancen im Leben.
Einmal am Tag gibt es ein gemeinsames Essen, dann sitzen sie hier, der Typ mit dem iPod, der zwei Munch-Gemälde aus dem Museum stahl, den "Schrei" und die "Madonna", oder der Junge mit den Dreadlocks, der zwei Frauen vergewaltigt hat.
Jorgen überragt sie alle. Messer und Gabel sind Puppenbesteck in seinen Händen. Er kaut und starrt aus dem Fenster. Am Tisch sitzt er allein, er will es so, denn Verbrechen ist infektiös und seine Vergangenheit eine offene Wunde.
Wenn Jorgen früher zu Bett ging, legte er seine Waffe auf das Nachtkästchen. Die Gang war seine Familie, und für die Familie hätte er getötet. Er verkaufte Drogen, zog sich Koks rein, Speed, schluckte Pillen, ging feiern auf Technopartys, löste sich auf in Beats und im Lichtergewirr. Kunden, die nicht zahlten, verprügelte Jorgen, so schärft man seinen Ruf in der Szene. Jorgen ist jetzt 41. Mehr als ein Drittel seines Lebens hat er im Gefängnis verbracht.
Jetzt hat Jorgen einen Traum. Der Traum ist rein wie ein Glas Milch. Er hat eine Freundin, sie kommt dreimal die Woche, zusammen mit den anderen Frauen. Ein gutes Mädchen, keine aus der Szene. Sie bringt Schokolade, trägt Stiefel bis übers Knie und das blonde Haar frisch gewaschen.
Vier Kinder wollen sie, da sind sie sich einig.
Sie treffen sich im Haus für Besucher, Raum Nummer 6. Alle Zimmer sind gleich, eines liegt neben dem anderen wie die Kammern in einer Wabe: ein paar Quadratmeter, eine Couch, eine Matratze mit Plastikbezug, daneben ein Kleenex-Spender. Dort lieben sie sich.
Raymond, der Junge mit den tätowierten Tränen, hat keine Freundin, die ihn besuchen wird. "Nicoletta" steht auf seinem Arm, aber das ist lange her. Jetzt ist er 28, ein Ladendieb, Schläger, Räuber. Er steht im Kuhstall, rundes Kindergesicht, roter Schneeanzug, wie ein Astronaut ohne Helm.
In der Kälte dampft der Mist, und die Luft riecht nach Heu. Die Tiere beruhigen ihn. Er füttert sie mit Kartoffeln, dass sie
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