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fassungslos. Die Akte enthält ein Foto von ihm, als er 18 war. Es prangt auf einem Formular, auf dem fett gedruckt "Beobachtungsbogen" steht. Rund 100 Dokumente zeigen, wie nichtig damals die Gründe für seine Heimeinweisung waren. Obendrein gibt es Originale von Briefen, die er im Heim an seine Mutter schrieb, die aber offenbar von den Salvatorianer-Brüdern abgefangen wurden, ebenso liebevolle Briefe seiner Mutter, die ihm nie ausgehändigt wurden.
Auch eine Art Gutachten seines letzten Lehrers findet sich. Der schrieb: "Wenn Gerald nun in ein gutes Milieuumfeld hineinkommt, hat er alle Chancen, ein gutes und erfolgreiches Leben zu führen."
Gerald H. weinte, der Heimleiter guckte betreten und nahm ihm die Akte wieder ab. Er verlangte einen "ordentlichen" Antrag auf Akteneinsicht. Gerald H. stellte ihn an Ort und Stelle schriftlich.
Am nächsten Tag wurde der Heimchef vom Hausjuristen der Caritas in Paderborn gerüffelt. Die Einsicht in die Akte "hätte nicht geschehen dürfen", sagte der fromme Advokat, "es könnte ja Negatives drinstehen". Ein paar Tage später verweigerte das Heim, beraten vom Erzbistum Paderborn, die Herausgabe der Papiere. Für Gerald begann ein langer Kampf um seine Akte.
Der erste kurze Einblick hat bei ihm die Erinnerung an Pater Vincens befördert. Der geistliche Herr findet sich heute in Berlin. Dort ist er seit 1972 ein wohlgelittener Mann, Gefängnis- und Notfallseelsorger, mit Ehrungen überhäuft, vom Bundesverdienstkreuz bis zum Verdienstorden des Landes. Vor wenigen Monaten erst ging Pater Vincens in den Ruhestand, begleitet von freundlichen Würdigungen.
Vor Kameras und Mikrofonen redet er immer noch gern und viel, aber nur selten darüber, was er vor seiner Berliner Zeit gemacht hat. Gerald H. traf ihn im Garten seines Alterssitzes, dem Salvatorianer-Kloster in Berlin-Lankwitz. Erst nach wiederholter Nachfrage gab der Pater zu, im Heim von Hövelhof gewesen zu sein. 300 schwer Erziehbare seien dort gewesen, erinnerte er sich.
Dabei huschten, als Gerald und Pater Vincens sich gegenüberstanden, die Augen des Salvatorianers hin und her, signalisierten Erschrecken über die unverhoffte Begegnung mit der verdrängten Vergangenheit. Ein mitgebrachtes Jugendbild des ehemaligen Heimkindes wollte der Ordensmann schnell wieder abgeben. Ja, räumte er dann ein, man habe schon mal Störenfriede in einen "Besinnungsraum" gesteckt. "Aber nur kurz."
Besinnungsraum? Oder Bunker? Gerald H. erinnerte sein Gegenüber daran, dass er sechs Wochen in dieser Isolation mit Eimer und matratzenloser Holzpritsche zubringen musste. "Das hatte ich nicht zu verantworten, und deswegen muss ich jetzt wohl das Gespräch beenden."
Pater Vincens ließ seinen Gesprächspartner, der noch so viele Fragen an ihn hatte, einfach stehen, drehte sich um und zog sich in sein Kloster zurück. An der Pforte stockte er und rief: "Und bitte, verlassen Sie das Grundstück."
Veröffentlicht in DER SPIEGEL 21/2003
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