SPIEGEL E-Book: Best of SPIEGEL:Ausgezeichnete SPIEGEL-Autorinnen und Autoren des Jahres 2012 (German Edition)
ganz nah kommen mit ihren feuchten Mäulern, dass sie ihn berühren.
An der Wand hängt ein Stück Schwemmholz. Jemand hat einen Fisch daraufgemalt, ein Segelboot, eine Möwe und geschrieben "Bastøy – Gangster's Paradise".
Das Paradies existiert seit 20 Jahren und hat einen Direktor, der die Statistik liebt, denn die Statistik gibt ihm recht. Weil nur 16 Prozent der Gefangenen rückfällig werden, in den ersten zwei Jahren nach Bastøy, weil es in Norwegen insgesamt 20 Prozent sind und in Deutschland, wo man die Rückfälligkeit innerhalb von drei Jahren misst, fast 50 Prozent. Weil es noch nie einen Mord gegeben hat auf der Insel und auch keinen Selbstmord. Und im letzten Winter war das Meer zugefroren, aber gegangen sind nur die Füchse.
Raymond, der Neue, soll arbeiten, 50 Kronen am Tag wird er dafür bekommen, ausbezahlt einmal im Monat. Das Geld für Lebensmittel soll er sich selbst einteilen, jeden Morgen soll er aufstehen, er soll kochen und waschen, er weiß nicht, wie er das schaffen soll.
Er wird sich ansehen, wie die anderen das machen, Jorgen zum Beispiel. Jorgen, der versagt hat auf Bastøy, als er vor 20 Jahren das erste Mal da war. Nach zwei Monaten musste er zur Kontrolle, "abpissen", jemand von den Wachen sah zu. Sie fanden Spuren von Drogen in seinem Urin. Am anderen Morgen brachten sie ihn zurück in einen Hochsicherheitsknast. Jorgen war das egal. "Ich wollte mich nicht auf die Leute hier einlassen", sagt er, "mein Grundgefühl war Hass."
Jorgen kniet auf dem Dach einer Holzhütte. Das ist seine Aufgabe hier, er baut Häuser. Er ist beschäftigt. Er denkt nicht mehr so oft an seine Geschichte, an jenes Pärchen zum Beispiel, das er verprügelt hat, bloß weil sie da waren, wo er war.
"Ich bin zu alt für den Scheiß", sagt er.
Er weiß, wie es sich anfühlt, wenn man am Tag der Entlassung vor dem Knast-tor steht, gute Vorsätze im Kopf und eine Plastiktüte in der Hand, darin ein Rasierwasser und ein paar Klamotten.
Sehr gute Vorsätze hatte er beim letzten Mal, in der Haft hatte er irgendwann begriffen, dass es nichts bringt, nur dazusitzen und die Wachen zu hassen und die Pädophilen. Dass es nur zwei Möglichkeiten gibt in der Welt der Dealer. Entweder du stirbst, oder du bringst einen um. Er machte eine Therapie, versuchte zu verstehen, was ihn daran reizte, Regeln zu brechen. Er hatte es genossen, wenn sie ihn jagten.
Jorgen fand einen Job im Callcenter und hielt ihn nicht lange durch. Wie ein Fremdkörper fühlte er sich in diesem Büro. Bald lebte er von Sozialhilfe, das Geld war knapp, der Kick fehlte. Und dann waren da die alten Kumpels, die Partywelt. Und in den Clubs waren die Frauen, die ihn begehrten, gerade weil er ein böser Junge war. Die Clubs waren teuer. So fing Jorgen an, seinen Freunden doch hin und wieder einen Gefallen zu tun.
Als sie ihn erwischten, fuhr er ohne gültigen Führerschein und hatte ein Kilo Marihuana dabei.
"Ich bin nicht stolz", sagt Jorgen und hämmert weiter am Dach der Hütte. Er bewarb sich für Bastøy, und seit ein paar Monaten ist er da. Diesmal, meint er, sei er besser vorbereitet auf die Freiheit. Auf Bastøy hat Jorgen das Zimmern gelernt, wie man mit Holz umgeht und kleine Einfamilienhäuser baut. Er schläft jetzt besser als früher. Er hat schon einen Job, wenn er hier rauskommt, auf dem Bau.
Es ist früher Nachmittag, die Kühe sind versorgt, Raymond, der Neue, hat seine Arbeit getan. Jetzt will er, dass ihm jemand sagt, was er zu tun hat. Ihm fehlt seine Zelle, ihm fehlt das Warten auf irgendwas, auf eine Mahlzeit, einen Anruf, auf die Stunde im Hof.
Das Warten füllt den Tag, im echten Knast. Auf der Insel gefriert die Zeit.
In sein Zimmer will er nicht, da ist dieser Neue aus Polen. Er läuft durch das Dorf, vorbei an der Schule, an der Bibliothek und den Feldern bis hinunter zum Ufer, wo die kleine Fähre anlegt. Noch 90 Minuten bis zur Zählung.
Wenn die Freiheit vor dir liegt und du greifst nicht nach ihr, so denkt er, dann haben sie dich gebrochen.
Raymond schiebt den Ärmel seines Anoraks nach oben, entblößt die Enden einer Tätowierung, die sich dick und schwarz um seinen Arm schlingt. Mit 16 raubte er das Lager eines Elektromarktes aus, da ließ er sich stechen und dann jedes Mal wieder, wenn er etwas Böses getan hatte, zuletzt nach dem Raubüberfall auf einen Kiosk.
Nun wuchern schwarze Ranken bis zu seinem Hinterkopf. Raymond sieht auf das Meer und denkt an Flucht, an den Freund, der ein Boot
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