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er.
Was er genau tat in seinem Ministerium verstand ich nicht. Er ärgerte sich über Frau Focke, Frau Huber, Frau Fuchs und Herrn Geißler – gesichtslose Namen meiner Kindheit, doch mächtig genug, ein Wochenende zu verdüstern. Als 1994 die Abgeordneten den Umzug der Regierung nach Berlin beschlossen, wäre er, inzwischen dreiundsechzig Jahre alt, gern mitgezogen. Er liebte Berlin. "Schade, dass du zu alt bist", sagte ich leichthin, als er die Absage erhielt; ich würde bald selbst arbeiten. Besuchte ich meine Eltern in den Semesterferien, konnte wie früher ein Minister das Wochenende verdüstern, er hieß nun Seehofer und mit Vornamen wie mein Vater, der, auch das hatte sich nicht geändert, abends wortkarg zum Gongklang der Nachrichten aus dem Ministerium nach Hause kam. Horst Thimm mochte es nicht, wenn jemand redete, während der Fernsehmann das Weltgeschehen verlas.
"Lasset uns beten", spricht der Pfarrer im Radio. In ein paar Minuten werden im Godesberger Villenviertel die Kirchenglocken läuten, und der Westdeutsche Rundfunk wird Nachrichten senden. Ich höre gern Nachrichten und lasse mich ungern dabei stören. "Lasset uns beten für alle, die sich der Last ihres Lebens nicht gewachsen fühlen, ewiger Gott, wir bitten dich." Auf dem Autorücksitz klappern in den Kartons Bilderrahmen und Geschirr, dreimal Gedeck, dreimal Besteck, zwei Gläser für Bier, vier für Wein, vier für Wasser. Ein scharfes Messer. Der Lieferwagen des polnischen Kleinunternehmers, der beim Umzug hilft, ist bereits am Ziel. Er hat zwei Sessel transportiert, das Bett, einen Stuhl, einen Tisch, die Regale, die Bücher. Es ist Karfreitag, die Sonne scheint, Vögel zwitschern, und mein Vater wird fortan im Seniorenheim leben. Im Garten dieser Unterkunft blühen violette Krokusse.
Demografischer Wandel. Pflegenotstand. Medizinischer Dienst der Krankenversicherungen. Es werden viele Vokabeln aus dem unfassbaren Nachrichtenfluss handgreiflich, wenn der eigene Vater in ein Heim umzieht. Vorangegangen waren Monate der Suche.
Es wäre mir lieber gewesen, er hätte zu denen zählen können, die zu Hause Pflege und Hilfe erhalten. Es sind dies fast so viele wie in Hamburg wohnen, 1,8 Millionen. Es war nicht möglich. So lebt er in einer Einrichtung, und Altenpfleger, Köche, Putzhilfen, Wäschefrauen und Sozialpädagogen teilen im Schichtdienst seinen Alltag. Sie helfen den Bewohnern auf die Toilettenbrille, bewegen sie mit einer elektrischen Hebehilfe vom Bett in den Rollstuhl, versehen Kleidung mit Namensschildern, leeren Mülleimer, assistieren beim Essen oder spielen mit den Alten Mensch ärgere Dich nicht. Es leben mehr Menschen in Deutschland in einer solchen Einrichtung als in Frankfurt am Main, 720 000.
Als es immer schwieriger wurde, allein in seiner Wohnung, gehörte mein Vater zu einer Gruppe, so zahlreich wie die Einwohner von Stuttgart. Die meisten Menschen gehören irgendwann einmal zu Stuttgart. Sie brauchen noch keine Pflege, doch Unterstützung, denn sie scheitern an Bankgeschäften, Kleiderkäufen und der durchgebrannten Glühbirne ganz oben in der Deckenlampe. Noch in den ersten zwei Jahren im Altersheim zählte mein Vater zu Stuttgart.
Nie zuvor wurden in diesem Land so viele Menschen so alt. Frauen, die in diesen Tagen ihren achtzigsten Geburtstag feiern, begehen aller Wahrscheinlichkeit nach auch noch den neunundachtzigsten, Männer den siebenundachtzigsten. Die Zahl der Pflegebedürftigen wird sich in vierzig Jahren auf 4,4 Millionen verdoppelt haben, die der Demenzkranken auf 2,5 Millionen. Einmal Sachsen, einmal Brandenburg. So lauten die Prognosen.
Nie zuvor wurden in diesem Land so wenige Menschen geboren. Sollte ich achtzig Jahre alt werden, so alt, wie mein Vater inzwischen ist, werden mir in den Statistiken nur noch fünf Deutsche gegenüberstehen, die jünger sein werden als ich.
Das Geld aus der Pflegeversicherung reicht, ohne eine Beitragserhöhung, noch drei Jahre. Es deckt schon jetzt nicht alle Kosten; mancher zahlt allein für die Pflege, die er benötigt, im Monat siebenhundert Euro selbst. Und jene, die das nicht können, weil dann nichts bliebe für Miete und Mahlzeiten, benötigen "Hilfe zur Pflege", eine Art Hartz IV für Alte. Es sind bereits so viele, wie in Freiburg wohnen, 220 000.
Der hundertfach verplätscherte Appell aus Talkshows und Sonntagsreden dröhnt, wenn plötzlich der eigene Vater, die eigene Mutter nicht mehr können: Der demografische Wandel ist die dringlichste
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